Seit dem 1. September letzten Jahres ist Petra Pigerl-Radtke Hauptgeschäftsführerin der IHK Ostwestfalen zu Bielefeld. Ausgesprochen arbeitsintensiv gestalteten sich ihre ersten 100 Tage im neuen Amt. Die Düsseldorferin hat die Herausforderung angenommen, mit rheinischem Humor und zupackender Art. Und zieht – auch in Corona-Zeiten – ein positives Resümee.

Frau Pigerl-Radtke, wie haben Sie die ersten 100 Tage erlebt?

Sie waren bewegt und ereignisreich! Jeder Stellenwechsel, der zudem mit einem Ortswechsel verbunden ist, fordert. Durch die Pandemie gab es wenig Zeit, sich langsam einzuarbeiten. Stattdessen war ich sofort drin, aber ich wurde unterstützt und so hat alles gut geklappt und funktioniert.

Haben sich Ihre Erwartungen erfüllt?

Als im Dezember 2019 die Entscheidung fiel, dass ich als Hauptgeschäftsführerin der IHK nach Bielefeld komme, war von Corona noch nicht die Rede und der wirtschaftliche Einbruch nicht erwartbar. Unabhängig davon ist Ostwestfalen jedoch so wie ich es erwartet habe: Hier leben zupackende, geradlinige Menschen, mit denen ich mich gut verstehe. Schließlich habe ich mich – im Vorfeld – neben meiner Aufgabe auch mit den Menschen und der Region beschäftigt.

Worauf haben Sie den größten Fokus gelegt?

Trotz Corona auf das Kennenlernen und Netzwerken. Das hat zwar nicht in großer Runde, dafür in Zweiergesprächen stattgefunden. Das ist für mich ganz wesentlich und gehört zum Auftakt. Der Fokus der IHK lag dann – Corona-bedingt – natürlich auf der intensiven Beratung unserer Mitglieder zu Soforthilfen und Maßnahmenpaketen für die Wirtschaft seitens der Politik. Wir haben dauerhaft eine Task Force eingerichtet, die unsere Mitgliedsunternehmen telefonisch berät. „Wie funktioniert die Antragsstellung?“ oder „Was muss man berücksichtigen?“ sind Fragen, die uns bis heute beschäftigen. Gleichzeitig ist es unsere Aufgabe, dass wir uns für die ostwestfälische Wirtschaft einsetzen und Forderungen an die Politik formulieren. Unter anderem setzen wir uns dafür ein, die Hilfen unbürokratisch auf den Weg zu bringen und diese nicht zu früh zurückzufordern. Dabei machen wir uns auch für bestimmte Branchen und Soloselbstständige stark. Genau zuhören und auch Forderungen zu stellen, gehen damit einher. Darüber hinaus kümmern wir uns als IHK intensiv um das Thema Prüfungen in Corona-Zeiten. Die Fort- und Ausbildungsprüfungen durchzuführen – eine unserer hoheitlichen Aufgaben –, bedeutet für uns einen enormen logistischen Aufwand. Um diese fristgerecht abnehmen zu können, braucht es zurzeit mehr Prüferinnen, mehr Prüfer und mehr Prüfungsorte. Und wir wollen das Ausbildungsjahr 2020 „retten“. Es gibt geringere Eintragszahlen, das heißt für uns, wir wollen nach wie vor potenzielle Auszubildende und Unternehmen zusammenbringen. Gemeinsam mit der Handwerkskammer und der Agentur für Arbeit wollen wir das „5. Quartal“ nutzen, um bis in den Januar hinein Ausbildungsverträge zu fördern. Jetzt, 2021, wollen wir das Defizit des letzten Jahres aufholen und bewusst und gezielt für das Thema Ausbildung werben.

Wie hat sich die Situation bzw. Ihre Arbeit durch Corona verändert?

Alles ist digitaler geworden – auch bei uns. Wir haben einige IHK-Veranstaltungen in digitale Formate überführt, so wie unsere „Raus aus der Krise“-Veranstaltungen. Wir haben gute Erfolge damit erzielt, Präsenzveranstaltungen ins Netz zu verlegen, und sind dabei, diese weiter zu professionalisieren. Auch digitale Auswahlverfahren mit Bewerbern sind längst Alltag. Ich freue mich aber wieder auf den persönlichen Austausch und Präsenz, aber noch braucht es Disziplin.

Welche Chancen können sich aus der aktuellen Krise ergeben

Krisen setzen immer auch Kreativität frei oder, wenn man den Volksmund zitiert: „Not macht erfinderisch.“ Das trifft auch auf die Unternehmen in Ostwestfalen zu, die je nach Branche mit Online-Angeboten oder Außer-Haus-Service ihre Kunden erreichen. Und es ist auch eine Zeitenwende Richtung Digitalisierung. Das fordert alle, auch die Unternehmen in Ostwestfalen, die aber anpacken. Das ist das Positive.

Und wie sieht es mit der nächsten Herausforderung aus: Worauf müssen sich Unternehmen – Stichwort Brexit – ab dem 1. Januar 2021 einstellen?

Alles andere als ein harter Brexit wäre eine Überraschung. Gleichwohl haben sich unsere Unternehmen darauf eingestellt. Dennoch wird es schwieriger, beispielsweise mit Blick auf die Zollabwicklung und beim Thema Logistik. Und einige Produkte aus Ostwestfalen werden durch die britischen Importzölle deutlich teurer werden, viele Unternehmen werden Umsätze verlieren. Doch bei allen Schwierigkeiten: Großbritannien wird ein wichtiger Absatzmarkt für die ostwestfälische Wirtschaft bleiben.

Petra Pigerl-Radtke

Petra Pigerl-Radtke, seit dem 1. September 2020 Hauptgeschäftsführerin der Industrie- und Handelskammer Ostwestfalen zu Bielefeld (IHK), hat als Nachfolgerin von Thomas Niehoff, auch ein zweites Amt, nämlich die Geschäftsführung der Umweltstiftung der ostwestfälischen Wirtschaft, von ihm übernommen. Die 54-Jährige war seit 2016 bei der IHK Mittlerer Niederrhein beschäftigt, als Geschäftsführerin für die Bereiche Innovation, Bildung, Fachkräfte, sowie als stellvertretende Hauptgeschäftsführerin. Darüber hinaus war Pigerl-Radtke als Bildungs- und Fachkräftepolitische Sprecherin der 16 IHKs in NRW aktiv. Studiert hat die gebürtige Düsseldorferin Linguistik und Erwachsenenbildung in Bamberg und Antwerpen.

Was bedeuten Brexit und Corona für Unternehmen, die international agieren und ihre Umsätze machen?

Insgesamt wird es international nicht leichter, erfolgreich zu bleiben. Warenaustausch wird es nach wie vor geben, es wird jedoch teurer und es werden Verlagerungen stattfinden. Kleine und mittelständische Unternehmen müssen sich gut aufstellen und ihre Märkte suchen und finden. Ich vertraue auf den Erfindungsreichtum der Unternehmen, es werden sich Lösungswege auftun.

Woran sollte die IHK intensiver arbeiten als bisher?

Digitale Formate weiter auszubauen, bleibt eine Aufgabe auch nach der Bewältigung der Pandemie. Ansonsten gilt es, weiter intensiv am Puls der Mitgliedsunternehmen zu bleiben, gut zuzuhören, zu handeln und die richtigen Forderungen zu stellen. Kommunikation ist für uns wesentlich, gerade auch mit den kleinen und mittelständischen Unternehmen. Wir wollen deutlich machen, was die Dienstleistung der IHK ist und weiterhin als wertvolles Sprachrohr der ostwestfälischen Wirtschaft ihre Forderungen vertreten. Denn man sieht nur, was man weiß – für uns heißt das, dass wir erklären, warum wir was tun. Dafür braucht es eine noch intensivere Kommunikation mit unseren Mitgliedern, aber auch ergänzend dazu umfangreiche Informationen auf unserer Webseite.

Wie muss sich Ostwestfalen entwickeln, um für die Wirtschaft attraktiv zu sein?

Auf Dauer sind nur die Regionen attraktiv, die auch wirtschaftlich stark sind. In unserer Region gibt es eine unglaubliche Dichte an erfolgreichen Unternehmen, das belegt auch eine aktuelle Studie. Mit 62 mittelständischen Top-Unternehmen und 35 Top-Familienunternehmen liegt Bielefeld deutschlandweit jeweils auf Rang neun. Gleichzeitig bietet Ostwestfalen ein attraktives Lebensumfeld und ist bekannt für seine fleißigen und zuverlässigen Menschen. Die Mischung daraus ist ziemlich einzigartig in Deutschland und ein ordentliches Pfund. Es lohnt sich, hierhin zu kommen und hier zu bleiben.

Was bedeutet das auch die für Start-up-Szene, die sich in Bielefeld etabliert hat?

Bielefelds Start-up-Szene ist über die Region Ostwestfalen hinaus bekannt – auch wenn sie nicht in einem Atemzug mit Berlin genannt wird. Die Start-ups in unserer Region befinden sich in einer guten Tradition großartiger Unternehmen und sind gleichzeitig ein gutes Beispiel dafür, wie man mit Innovationsgeist etwas völlig anders machen kann. Hier entstehen viele B2B-Lösungen. Gleichzeitig ist das gute Ökosystem für Start-ups auch über die Grenzen der Region interessant und zieht andere Gründer an.

Für viele Firmen ist der Fachkräftemangel eines der größten Probleme. Wie lässt sich das lösen?

Attraktiv sein als Region – und zwar in erwähnter Mischung – ist wichtig, um Menschen in Ostwestfalen zu halten und von außerhalb hierhin zu bekommen. Auch, wenn Bielefeld zurzeit noch eine wachsende Stadt ist. Bis 2030, so die Prognose, fehlen uns 81.000 Fachkräfte, überwiegend beruflich Qualifizierte. Das heißt: Wir müssen konsequent in Aus- und Weiterbildung investieren. Junge Menschen in eine Ausbildung zu bekommen, ist daher eines der wichtigsten Ziele – auch für 2021. Dabei sind es unsere Familien- und mittelständischen Unternehmen, die einen Sog in die Region auslösen. Hinzu kommt der gute Transfer zwischen Wirtschaft und Wissenschaft, sodass wir als Region der Innovationen bekannt sind. Und natürlich das attraktive Oberzentrum Bielefeld, in dem es sich so gut leben lässt.

Der Bereich Bildung liegt Ihnen persönlich besonders am Herzen. Welche Weichen müssen hier für die Zukunft gestellt werden?

Es muss Common Sense werden, dass die berufliche Bildung ein gleichwertiger Weg zur akademischen Bildung ist. Das muss sich viel stärker verbreiten und in der Gesellschaft ankommen. Dazu meinen Beitrag zu leisten, das ist meine Mission. Die beruflichen Fortbildungswege Bachelor- oder Master Professional sind gleichwertig zur akademischen Laufbahn, um damit beruflich Karriere zu machen.

Die Mobilität der Zukunft ist ein Thema, das auch Bielefelder Unternehmen beschäftigt. Ein Beispiel dafür ist u.a. der Umbau des Jahnplatzes, der uns noch länger begleiten wird. Welche Rolle spielt das für die Unternehmen in Bielefeld?

Bielefeld ist das Oberzentrum der Region und muss ein attraktives Ziel auch für das Umland bleiben. Das geht nur, wenn Bielefeld erreichbar ist. Der Umstieg aufs Rad und den ÖPNV ist ein wichtiger wie richtiger Trend, gleichzeitig geht es nicht ohne den Individualverkehr. Beides muss in Einklang gebracht werden. Das Ziel ist klar: Klima, Nachhaltigkeit, das erfordert veränderte Mobilitätskonzepte, aber über den Weg dorthin besteht aktuell in unserer Stadt kein Einvernehmen. Aus meiner Sicht setzt man neue Mobilitätskonzepte über möglichst attraktive Angebote um, weniger über Verbote oder über radikale Brüche. Hier wünsche ich mir mehr Miteinander, das die Bedürfnisse aller berücksichtigt.

Wo muss jenseits von Straßen investiert werden?

In die digitale Infrastruktur. Das sind die Autobahnen der Zukunft. Beim Glasfaserausbau müssen wir schnell vorankommen. Bei 5G ist es für Ostwestfalen wichtig, früh dabei zu sein, damit die Unternehmen die Technik für ihre digitalen Geschäftsmodelle nutzen können.

Wie sieht der Ausblick für die kommenden 100 Tage aus?

Mit großer Ernsthaftigkeit und Konzentration die Aufgaben managen, die anstehen. Dazu gehört Aufgeschlossenheit und Kooperationsbereitschaft, um mit den Partnern zusammenzuarbeiten. Die Kontakte dafür sind geknüpft. Die Pandemiebewältigung wird uns auch 2021 beschäftigen – das Thema hat für die Wirtschaft höchste Priorität. Gleichzeitig werde ich mit großer Freude Ostwestfalen und die Arbeit hier weiter genießen.