Leselust füttern
Na, sind Sie im Urlaub auf den Geschmack gekommen und haben Bücher für sich entdeckt? Damit Ihnen der Stoff nicht ausgeht, haben wir für Sie ein paar Vorschläge zusammengestellt.
Kent Haruf: Kostbare Tage
Diogenes, 24 €
Kann man mit Romanen eine Stadt bauen? Man kann. Der 2014 verstorbene amerikanische Autor Kent Haruf hat in seinen sechs Romanen das kleine fiktive Städtchen Holt im tiefsten Colorado geschaffen und mit sehr lebensnahen Figuren bevölkert. Die Romane hängen alle lose zusammen, die Protagonisten und Zeitebenen sind auf geschickte Weise miteinander verknüpft. In diesem – seinem vorletzten – Roman geht es um Dad Lewis, der über Jahrzehnte den Eisenwarenladen in Holt führte. Es geht um seine letzten Tage, der Krebs frisst ihn auf. Wie Kent Haruf auf wenigen Seiten ein ganzes Leben entwirft, die Rechtschaffenheit, aber auch Schuld und Fehler dieses Mannes zeichnet, das zeugt von unsentimentaler Sprachökonomie. Gleichzeitig schildert er die liebevolle Begleitung, die Dad Lewis durch seine Frau, seine Tochter und die einfühlsamen Nachbarn erfährt und beweist so bei allem Realismus eines: ein großes Herz. (H.O.)
Colin Cotterill: Dr. Siri und die Spiele der Rattenfänger
Goldmann, 20 €
Hier ist Colin Cotterill und damit auch sein laotischer Leichenbeschauer Dr. Siri in absoluter Bestform. Das muss der schlaue Zyniker, der ja eigentlich im Ruhestand, aber durch diesen zutiefst gelangweilt ist, auch sein, denn wir schreiben das Jahr 1980 und es geht nach Moskau zu den Olympischen Spielen. Zwar steht schon vor Antritt der Reise fest, dass die Sportler des südostasiatischen Landes bei den Wettkämpfen keinen Blumentopf, geschweige denn eine Medaille, gewinnen werden, aber trotzdem platzt die Demokratische Volksrepublik fast vor Stolz, dass Laos das erste Mal bei den Spielen der Jugend dabei sein darf. Als ein laotischer Athlet eines Mordes beschuldigt wird, ist Dr. Siri, eigentlich als Mannschaftsarzt engagiert, selbstverständlich zur Stelle, um das Verbrechen aufzuklären. Ein höchst vergnüglicher Lesespaß! (E.B.)
Lily Brett: Alt sind nur die anderen
Suhrkamp, 15 Euro
Kleine, feine Alltagsbeobachtungen, unspektakulär, aber unterhaltsam. Im Fokus: das Alter. Vor allem das Älterwerden in New York, der langjährigen Wahlheimat der in Australien geborenen Autorin. Wenn das Bindegewebe schwächelt und das körperliche „Ersatzteillager“ immer größer wird, das Gedächtnis ab-, aber die Arzttermine zunehmen, liest sich das bei Lily Brett höchst vergnüglich. Sie schaut ebenso humorvoll wie genau hin – auf ihre Mitmenschen, aber vor allem auf sich selbst. Sogar dann, wenn der Blick in den Spiegel zur Herausforderung wird. Die meisten der kurzweiligen Kolumnen sind zuvor bereits in „Brigitte Wir“ erscheinen. Aber selbst für WiederholungstäterInnen gilt: Wiederlesen macht Freude. Und vielleicht – soll ja beim Älterwerden vorkommen – erinnert sich manche(r) auch gar nicht mehr so genau … (S.G.)
Karl-Heinz Ott: Und jeden Morgen das Meer
dtv, 10,90 Euro
Zufall oder liegt das Thema gerade irgendwie in der Luft? Auch dieses Buch beschäftigt sich mit dem Alter. Allerdings eher berührend und feinfühlig als humorvoll. Nach dreißig Jahren an der Seite eines Spitzenkochs steht Sonja nach dessen Tod vor dem Ruin. Das heruntergewirtschaftete Sternerestaurant am Bodensee alleine weiterzuführen kommt nicht in Frage und die Berufswelt hat auf eine Frau über 60 schon gar nicht gewartet. Ihr Ausweg: eine kleine Pension an der rauen walisischen Küste. Und diese Steilküste spielt mit ihren entfesselten Naturgewalten die zweite Hauptrolle in dem bewegenden Roman. „Jeden Morgen steht sie auf den Klippen und denkt: ‚Ich könnte springen.‘“ Doch das Meer verschlingt Sonja ebenso wenig, wie sich die Erinnerungen an ihr altes Leben auslöschen lassen. (S.G.)
Ferdinand von Schirach & Alexander Kluge: Trotzdem
Luchterhand, 8 €
Am 30. März 2020, 19 Tage nachdem die WHO die Ausbreitung eines neuartigen Coronavirus’ zu einer Pandemie erklärt hatte, führten mit Ferdinand von Schirach und Alexander Kluge zwei helle und eloquente Köpfe zwei Gespräche über einen Instant-Messaging-Dienst. Der Ausgangsort des Virus’ in China führt sie zu der Frage, ob der aktuelle Shutdown unserer Gesellschaft auch ein Shutdown unserer Grundrechte sei und was die Corona-Pandemie für unsere Gesellschaftsordnung und unsere bürgerliche Freiheit bedeutet. Ein kluger Austausch, der sich auf die Genese und Entwicklung der Demokratie beruft. (E.B.)
Alexander McCall Smith: Das Dezernat für heikle Fälle
Knaur, 14,99
Wer die in Botswana angesiedelte Reihe rund um „Mma Ramotswe“ kennt, der hat schon eine gute Vorstellung davon, was den geneigten Leser in der neuen Krimi-Reihe um Kommissar Varg erwartet: liebevoll gezeichnete Charaktere, skurril-komische Fälle und ganz viel britischer Humor. Obgleich das „Dezernat für heikle Fälle“ in Malmö liegt. Hier landet alles, was die Kollegen von der Kripo nicht so recht einzuordnen wissen. Und das Personal – bestehend aus Inspektor Ulf Varg, seiner hübschen Kollegin Anna Bengsdotter und dem fliegenfischende Erik Nykvist – gehen die Fälle in aller Ruhe und der gebotenen Sorgfalt an. Sei es ein merkwürdiges Attentat, bei dem der Angreifer das Knie seines Opfers ins Visier nahm oder der Fall eines verschwundenen jungen Mannes. Als dann auch noch ein FKK-Strand in Süd-Schweden von einem Werwolf heimgesucht zu werden scheint, ist Ulfs ganze Kombinationsgabe gefragt. Eine wunderbar leichte Lektüre, die den Leser mit einem Lächeln auf dem Gesicht zurücklässt. (E.B.)
Amélie Nothomb: Happy End
Diogenes, 12 €
Mit gewohnt leichter Feder widmet sich Amélie Nothomb einem modernen Märchen und der immerwährenden Frage: Was ist Schönheit? Bekannt für ihre skurrilen Figuren ist es dieses Mal der vermeintlich hässliche Sonderling Déodat, der sich in ein – ebenfalls vermeintlich – bildhübsches Mädchen verliebt. Wie stehen die Chancen für ein Happy End? Man darf gespannt sein. (E.B.)
Leif GW Persson: Wer zweimal stirbt
btb, 16 €
Ein rätselhafter Fall: Der Schädel mit Einschussloch, den Pfadfinder auf einer kleinen Insel bei Stockholm finden und in dem noch die Kugel herumrollt, gehört einer Frau, die angeblich 2004 bei der Tsunami-Katastrophe in Thailand gestorben sein soll. Ein Fall für Evert Bäckström, Schwedens faulsten und korruptesten Polizisten. Der hat zum Glück ein kompetentes Team, das trotz ihres Chefs und anderer bürokratischer Vollpfosten was von polizeilicher Ermittlungsarbeit versteht. Davon erzählt Polizei-Insider Persson voller Witz und feiner Ironie und hält die Spannung bis zum Schluss hoch. (K.M.)
Ulrich Becher: New Yorker Novellen
Schöffling & Co., 24 €
Diese Erzählungen sind große Exilliteratur und es kommt dem Schöffling-Verlag zusammen mit Herausgeber Moritz Wagner das Verdienst zu, diese im Jahr 1950 erstmals publizierten Novellen von Ulrich Becher, dem einzigen Meisterschüler des legendären George Grosz, wiederentdeckt zu haben. Der Stil von Ulrich Becher, den es nach seiner Flucht aus Nazi-Deutschland auf viele abenteuerliche Lebensstationen verschlug, bis er schließlich in Basel landete, ist geprägt von satirischer Schärfe, teils grotesk, teils tiefschwarz – darin ganz wie sein großer Meister Grosz. Von 1944 bis 1948 war Becher in New York und von dieser Stadt sind auch seine Helden geprägt. Ganz gleich, ob es ein einst erfolgloser Dichter ist, der im New Yorker Exil zum gefragten Psychiater wird, ein ehemaliger jüdischer KZ-Häftling, der sein Gehör verloren hat oder ein Börsenmakler, der für seine verstorbene Frau eine bizarre Totenfeier veranstaltet: Diese Novellen lesen sich höchst unterhaltsam und amüsant, auch wenn es um entwurzelte Außenseiter geht. (H.O.)
Zoë Beck: Paradise City
Suhrkamp, 16 €
Deutschland in nicht allzu ferner Zukunft: Der Nordseestrand liegt gleich hinter Bremen, Pandemien haben die Bevölkerung drastisch reduziert, Regierungssitz ist die Rhein-Main-Megacity Frankfurt. In dieser (un-) schönen neuen Welt kontrolliert der Staat nicht nur die meisten Medien, sondern auch die Gesundheit seiner Bürgerinnen und Bürger. Liina recherchiert für eines der letzten unabhängigen Nachrichtenportale in der verlassenen Uckermark, als ihr Chef einen mysteriösen Unfall hat und eine Kollegin ermordet wird. Zoë Beck entwirft eine böse Dystopie mit den Mitteln eines kühlen Thrillers. Geschrieben lange vor Corona, passt er perfekt in unsere Zeit – unbedingt lesen! (K.M.)
Karen Duve: Fräulein Nettes kurzer Sommer
KiWi, 14 €
Oh nein. Sie ist definitiv keine Frau ihrer Zeit. Fräulein Nette ist eine Nervensäge! Dreiundzwanzig Jahre alt, heftig, störrisch und vorlaut, ist sie das schwarze Schaf, das nicht in die Herde ihrer adligen Verwandten passen will. Das Schlimmste ist ihre scharfe Zunge. Wenn die Künstlerfreunde ihres Onkels August nach Bökerhof kommen, über Kunst und Politik sprechen, mischt sie sich ungefragt ein. Eine junge Dichterin, die sich nicht anpassen will. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts ist die Welt im Umbruch und Fräulein Nette fatal verstrickt in ihre Gefühle. Das riecht nach einer gehörigen (Liebes-)Katastrophe. Mit ganz viel Liebe zum historischen Detail hat Karin Duve auf literarische Weise ein Bild von Annette von Droste-Hülshoff entworfen, das die berühmte Schriftstellerin auf eine erfrischend andere Weise zeigt. (E.B.)