Der April macht wettermäßig, was er will. Für viel Abwechslung sorgt nicht nur der Bielefelder Himmel, sondern auch unsere Buch-Tipps.
Andrej Murašov – Alles Gold
Katapult, 24 €
Wer immer schon mal wissen wollte, wie es sich anfühlt, mit einem anderen kulturellen Hintergrund in Bielefeld aufzuwachsen, dem sei Andrej Murašovs Roman „Alles Gold“ ans Herz gelegt. Er erzählt die Geschichte von fünf jungen Menschen auf der Suche nach ihrer Identität, der ersten Liebe, von Partys und von der Suche nach dem Glück. Ortskundige werden viele Ecken ihrer Stadt wiedererkennen. Es wird auf dem Kesselbrink geskatet und in angesagten Bielefelder Clubs und Kneipen gefeiert. Artur und Kazim träumen von einer Karriere als Rapstars, Nejla wird in manchen Nächten noch immer von den Schrecken des Bosnienkriegs verfolgt, während Dilek sich seinen Wunsch nach Freiheit erfüllen will. Und Bobbys Leben ist einfach so verrückt, dass er sich manchmal fragt, ob das alles nicht vielleicht bloß ein Traum ist.
Die ohnehin nicht so einfache Phase auf der Schwelle zum Erwachsenwerden wird durch Kriegs- und Fluchterfahrung sowie durch cultural clashes in Form der Erwartungen der Eltern noch ein Stück komplizierter. Andrej Murašov weiß, wovon er schreibt. Geboren 1983, wuchs er in Bielefeld mit einem slowenisch-russischen und deutschen Familienhintergrund auf. Mit viel Verve und einem guten Gespür für die Geschichte entwickelt er interessante Charaktere, die die Leserschaft bis zur letzten Seite fesseln. (E.B.)
Raphaela Edelbauer – Die Inkommensurablen
Klett-Cotta, 25 €
Inkommensurabel ist ein Begriff aus der Physik, der Mengen bezeichnet, die nicht gemeinsam messbar sind, also die „Unmessbaren“, wenn man den Titel platt übersetzt. Raphaela Edelbauer fängt hier einen ganz speziellen Zeitraum ein: Es ist der Juli 1914, nach dem tödlichen Attentat auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand. Ganz Österreich wartet auf das Verstreichen des Ultimatums des deutschen Kaisers, der Österreich-Ungarn einen Blankoscheck für einen Kriegseintritt gegeben hat. Es sind die letzten Tage des alten Europa. Es herrscht eine Stimmung zwischen fiebriger Erwartung, kriegsbegeisterter Ungeduld und aufgeregter Orientierungslosigkeit. Auch die vier Protagonisten Adam, Hans, Klara und Helene wissen nicht recht, wohin mit sich. Rapahaela Edelbauer gelingt es hier auf atemberaubende Weise, ein Stück Zeitgeschichte glaubwürdig zum Leben zu erwecken. Jetzt schon ein Favorit für den Roman des Jahres. (H.O.)
Fabio Genovesi – In meinem Herzen alles Sieger
Covadonga, 18 €
Schon als Kind versprach Fabio Genovesi seinem Onkel: »Eines Tages fahre ich den Giro d’Italia.« Aus der Karriere als Radprofi wurde nichts, er wurde stattdessen Bademeister, Kellner, schließlich gefeierter Schriftsteller. Und so wurde der Kindheitstraum am Ende doch noch wahr, 2013 schickte ihn der Corriere della Sera los, um die große Radrundfahrt als reisender Reporter zu begleiten. Parallel zu seinen tagesaktuellen Zeitungsberichten entstand ein Tagebuch mit Abschweifungen und Begegnungen. Das Ergebnis ist ein großer literarischer Spaß, der nun endlich auch in deutscher Übersetzung vorliegt, ein furioser Roadtrip durch ein Land, das genauso ist wie sein Radsport. Herrlich absurd und absurd herzlich, nie berechnend und stets unberechenbar, kurzum: einfach großartig.
Dirk Gieselmann – Der Inselmann
Kiepenheuer & Witsch, 20 €
Ein kompakter, in seiner Stilistik und poetischen Dichte besonderer Roman. Vielleicht liegt es daran, dass er im Grunde kaum einen Plot hat. Der junge Hans wächst als Einzelkind bei seinen Eltern auf, es ist eine isolierte Familie, die irgendwann beschließt, auf eine einsame Insel zu ziehen, die mitten in einem See liegt. Nicht nur in dieser Szene hat man den Eindruck, dass Dirk Gieselmann hier ein narratives Modell zimmert, eine Art Schlüsselroman. Ob er in der Nachkriegszeit angesiedelt ist, ob in Ost- oder Westdeutschland, wird nicht klar. Jedenfalls sind Isolation, Abgeschiedenheit und Einsamkeit die bestimmenden Attribute. Das Drama nimmt seinen Lauf, als Hans in ein Heiminternat muss. Sieben Jahre verbringt er dort, bis er zur Insel zurückkehrt. Was den Erzählstil Gieselmanns hervorhebt, ist die atmosphärische Verdichtung, die melancholische Naturbeschreibung, die nahtlos übergeht in die Darstellung seelischer Zustände. Wie gesagt: besonders. (H.O.)
Jan Carson – Firestarter
Liebeskind, 24 €
Den Bürgerkrieg in Nordirland hat eigentlich – abgesehen von den Bewohnern der britischen Inseln und Irland – keiner mehr so recht auf dem Schirm. Waffenruhe, Karfreitagsabkommen und Co. wiegen die Welt in einer trügerischen Sicherheit, dass die „Unruheprovinz“ – ja die gewalttätigen jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit mehren tausend Toten und Verletzten werden „Unruhen“ genannt – nun endlich zur Ruhe gekommen sei. Aber so ist es nicht. Während der Marching Season rund um den 12. Juli 2014 entfachen Protestanten riesige Freudenfeuer zu Ehren des englischen Königs William von Oranien, der einst das katholische Irland besiegte. Die Situation eskaliert, als ein Video viral geht, in dem ein maskierter „Firestarter“ dazu aufruft, die Stadt in Schutt und Asche zu legen. Sammy Agnew ahnt, dass sein Sohn Mark dahintersteckt, denn er kennt die Faszination zerstörerischer Gewalt aus der eigenen Jugend. Soll er seinen Sohn an die Polizei ausliefern, um zu vermeiden, dass die Situation vollends aus dem Ruder läuft? Verzweifelt bittet er den Arzt Jonathan Murray um Rat. Der jedoch befindet sich selbst in einer fatalen Lage. Er fürchtet, seine Tochter könnte mit allein ihrer Stimme Leben zerstören.
In ihrem preisgekrönten Roman schildert Jan Carson das Schicksal zweier Männer, die ihre Rolle als Vater hinterfragen müssen, um endlich zu sich selbst zu finden. Das ist zuweilen tragisch, aber auch komisch und im Falle von Jonathan zuweilen höchst bizarr und verstörend. (E.B.)
Lucy Clarke – One of the Girls
dtv, 15,95 €
Bella hat den Junggesellinnen-Abschied organisiert. Der Kurzurlaub auf einer kleinen griechischen mit insgesamt sechs Frauen soll die perfekte Hen Party für ihre beste Freundin Lexi werden, bevor das einst wilde Party Girl in den Hafen der Ehe mit Ed einläuft. Doch weder die idyllische Villa noch die wunderbare ägäische Küste können über die tiefen Differenzen zwischen den Frauen hinwegtäuschen. Jede von ihnen hütet ein intimes Geheimnis, bis es schließlich zu einem dramatischen Todesfall kommt. Geschickt entblättert Lucy Clarke – wie beim Häuten einer Zwiebel – Stück für Stück, wie die Beziehungen der Frauen zusammenhängen, welche alten Wunden wieder aufgerissen werden und welche Dynamik Frauenfreundschaften annehmen können. Ein wirklich spannender Pageturner, bei dem sich Lucy Clarke vielleicht ein wenig von der erfolgreichen Serie „Big Little Lies“ hat inspirieren lassen. (E.B.)
Jojo Moyes – Mein Leben in deinem
Wunderlich, 25 €
Schuhe können Wunder wirken. Diese Erfahrung macht Sam, als sie im Sportstudio versehentlich die falsche Tasche mitnimmt. Weil sie auf dem Weg zu einem wichtigen Geschäftstermin ist und ja schlecht in FlipFlops ihre Druckereifirma repräsentieren kann, muss sie sich am Inhalt der Tasche bedienen. Die roten Designer High Heels geben Sam, die seit der Depression ihres Ehemannes allein für den Familienunterhalt und alles andere zuständig ist, ein neues Selbstbewusstsein und ein frisches Lebensgefühl. Doch die eigentliche Besitzerin, Nisha, muss die Schuhe unbedingt zurück haben. Zwar schwimmt ihr Mann in Geld, aber er hat seine schwer verwöhnte Gattin ohne einen Penny vor die Tür gesetzt. Als sich die beiden Frauen begegnen, entwickelt sich zunächst eine Zweckgemeinschaft, bei der beide Frauen eine Lektion fürs Leben lernen. Gewohnt humorvoll und mit viel Liebe zu ihren Charakteren erzählt Jojo Moyes die Geschichte zweier Frauen, deren Lebenssituation unterschiedlicher nicht sein könnte und die doch mehr Berührungspunkte haben, als sie selbst ahnen. (E.B.)
Percival Everett – Die Bäume
Hanser, 26 €
Es ist ein skurriles Szenario: Im Städtchen Money in den Südstaaten der USA werden mehrere Männer ermordet: meist dick, doof und weiß. Neben jeder Leiche taucht ein Körper auf, der die Züge von Emmett Till trägt, eines 1955 gelynchten schwarzen Jungen, und der regelmäßig aus der Pathologie verschwindet. Zwei afroamerikanische Detectives ermitteln, doch der Sheriff sowie eine Gruppe hartnäckiger Rednecks setzen ihnen erbitterten Widerstand entgegen. Als sich die Morde auf ganz Amerika ausweiten, suchen die Detectives des Rätsels Lösung in den Archiven von Mama Z, die seit Jahrzehnten Buch führt über die Opfer der Lynchjustiz in Money. Das Archiv mit all den Namen legt ein erschütterndes Zeugnis über die Ausmaße des gewalttätigen Rassismus’ ab. Allein Everetts einzigartige Erzählweise, die zwischen Tragödie und Komödie pendelt, lässt den Leser das unfassbare Grauen ertragen. Ein Roman, der auch Quentin Tarantino gefallen dürfte. (E.B.)