Gehen Sie mit uns auf Entdeckungsreise. Ein Buch entführt Sie in eine andere Welt.
Nell Zink – Avalon
Rowohlt, 24 €
Klug, ironisch, manchmal auch rätselhaft: So erzählt „eine der witzigsten Schriftstellerinnen der US-Gegenwartsliteratur“ (Zeit Online) die Aschenputtel-Geschichte neu. Bran, arm, aber lebensklug, wächst bei ihrer Stieffamilie auf, die sie in ihrer Gärtnerei als billige Arbeitskraft ausbeutet. Sie verliebt sich ausgerechnet in Peter, einen gutaussehenden intellektuellen Überflieger von der Ostküste, der noch dazu bereits verlobt ist und pausenlos Kapitalismuskritik absondert. Hübsche Randnotiz: Immer, wenn sein „Mansplaining“ zu sehr ausufert und Bran (wie vermutlich auch die Leser*innen) seinen angeblich tiefgründigen Gedankengängen nicht mehr folgen kann, setzt die Ich-Erzählerin einfach mal Auslassungszeichen. Wie sich zwischen diesen unterschiedlichen Menschen eine ebenso stürmische wie krisenhafte Fernbeziehung entwickelt, ist einfach lesenswert. (S.G.)
Tove Alsterdal – Nebelblau
Rowohlt Polaris, 17 €
Der Einstieg in den Krimi ist im wahrsten Sinne atemberaubend. Der Leser ist hautnah dabei, als bei einem Tauchgang in einem bislang unentdeckten Wrack rund um die vor dem Zweiten Weltkrieg eingestürzte Sandö-Brücke ein Skelett entdeckt wird. Die menschlichen Überreste sind allerdings jüngeren Datums. Und: Der Schädel weist ein Einschussloch auf. Obwohl Polizistin Eira Sjödin aufgrund ihrer weit fortgeschrittenen Schwangerschaft in den Innendienst versetzt wurde, steht sie schon bald im Mittelpunkt der Ermittlung. Sorgen bereitet ihr darüber hinaus ihr Bruder, der für eine Verbrechen im Gefängnis sitzt, das er nicht begangen hat. Und ihre Mutter, die immer mehr in die Demenz abgleitet, aber in einem lichten Moment einen entscheidenden Hinweis liefert. Das Finale der mehrfach ausgezeichneten Trilogie um Eira hat es in sich – bis zur letzten Seite. (E.B.)
Ralf Rothmann – Theorie des Regens
Suhrkamp, 24 €
Vom Titel her könnte man es glatt für eines der klassischen Suhrkamp Wissenschaftsbücher halten mit dem typischen Genitiv-Titel und viel wissenschaftlichem Überbau. Aber hey, es ist ein Buch von Ralf Rothmann und eine Theorie des Regens enthält immer auch eine unumstößliche Wahrheit: Er fällt – der Regen natürlich. Aber lassen wir wortklauberischen Klimbim mal beiseite. Was enthält dieses Buch? Es ist eine Wundertüte aus unterschiedlichen literarischen Stilrichtungen: Arbeitsjournal, biographische Notizen, subjektive Erinnerungen, beobachtete Szenen, Prosafragmente, Lesefrüchte, Zitatfundstücke und vieles mehr. Und wer bisher glaubte, Rothmann sei angesichts der Thematik seiner letzten Romane mit ihrem Fokus auf Kriegs- und Nachkriegszeit monothematisch unterwegs und in der Vergangenheit verhaftet, wird angenehm überrascht. Rothmann ist vielseitig und dazu noch hochaktuell, es finden sich gar Anmerkungen und Notizen zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Dass er zudem ein glänzender Stilist und Formulierer ist, weiß man ja ohnehin. Das Schöne an dem Buch: Man kann es an beliebiger Stelle aufschlagen und liest sich sofort an diesen fein gebauten Sätzen fest. (H.O.)
John Irving – Der letzte Sessellift
Diogenes, 36 €
Sollte das wirklich – wie angekündigt – der letzte große Roman von John Irving sein? Auf jeden Fall sind alle Zutaten enthalten, die der US-Bestseller-Autor bislang in seinen Erfolgsromanen verkocht hat. Sie ahnen es bereits, das wirkt etwas bemüht und man muss wirklich Fan sein, um bei der sich auf fast 1.100 Seiten erstreckenden Handlung dabei zu bleiben.
Adam ist das uneheliche Kind der 18-Jährigen Rachel Brewster. Er wächst bei seinen Großeltern in Vermont auf, wobei Adams Großvater aufgehört hat zu sprechen, als er von der „Schande“ seiner jüngsten Tochter erfährt, und immer dementer wird. Im Alter von 14 Jahren verkuppelt er seine Mutter mit seinem Englischlehrer, der eine Vorliebe für Frauenkleider hat. Während der Hochzeit startet Adams Großvater Beißattacken auf die Knöchel der Gäste – und auch ansonsten geht es im Verlauf der Geschichte gewohnt irvingesk skurril weiter. Bis Adam ein sehr hohes Alter erreicht. (E.B.)
Elisabeth Sandmann – Porträt auf grüner Wandfarbe
Piper, 24 €
Es ist eine vielschichtige Geschichte, die Elisabeth Sandmann entworfen hat. Eine Familiengeschichte mit vielen starken Frauen. Die junge Gwen, die in London als Übersetzerin lebt, wird von ihrer Tante gebeten, sie zum ehemaligen Gutshof der Familie in Pommern zu begleiten. Schnell ist Gwen fasziniert von den Wirrungen und Schicksalsschlägen. Ellas Erinnerungen, die sie bis 1938 in roten Heften festgehalten hat, helfen ihr, ein Bild der Vergangenheit entstehen zu lassen. Und so eröffnet Elisabeth Sandmann eine zweite Zeitebene. Hier träumt die junge Ella Blau aus Bad Tölz von eigenen Schuhen aus Leder, die ihr den Weg in ein unabhängiges Leben ermöglichen sollen. Und so trifft die bodenständige Ella im oberbayerischen Schloss Elmau auf die glamouröse Ilsabé. Es entsteht eine ebenso unzerbrechliche wie komplizierte Freundschaft, die Kriege übersteht, Jahrzehnte überdauert und dramatische Geheimnisse bewahrt. Ellas Schicksalsfreundin Ilsabé ist Gwens inzwischen 94-jährige und reichlich kapriziöse Großmutter. Sie scheint einige Begebenheiten aus der Vergangenheit zu verschweigen, zum Beispiel, wo während der Kriegswirren einige sehr wertvolle Gemälde abgeblieben sind. Aber geht es tatsächlich nur um die verlorenen Bilder oder sind die Verluste weitaus größer.
Auch wenn man als Leserin schon sehr gefordert ist, den Überblick über die Familienverhältnisse zu behalten, sind die Schilderungen dieser besonderen Familiengeschichte ungeheuer berührend. (E.B.)
Val McDermid – 1989 Wahrheit oder Tod
Knaur, 14,99 €
Ende der 1980er: Europa ist politisch im Umbruch und eine tödliche Krankheit greift um sich. Journalistin Allie Burns stößt auf einen skandalösen Umgang mit HIV-Infizierten. Ihre Recherchen führen sie nach Ostberlin, wo es kräftig brodelt. Eine Machtverschiebung im Osten steht kurz bevor. Schon bald verlässt Allie ihre Position als Beobachterin und greift ins Geschehen ein, wobei sie mehr als nur Kopf und Kragen riskiert. In „1989“ verwebt die schottische Bestseller-Autorin viele kleine Geschichten, die dieses Schicksalsjahr ausmachen. Das nimmt manchmal leider etwas Tempo raus. Trotzdem ein lesenswerter Krimi. (E.B.)
Amélie Nothomb – Der belgische Konsul
Diogenes, 23 €
„Ich werde vor das Erschießungskommando geführt. Die Zeit dehnt sich, jede Sekunde dauert hundert Jahre länger als die davor. Ich bin achtundzwanzig Jahre alt.“ So steigt Amélie Nothomb in ihr höchst ungewöhnliches Familienporträt ein. Sein erster Posten führt Patrick Nothomb in den jüngst unabhängig gewordenen Kongo, wo er 1964 in die größte Geiselnahme des 20. Jahrhunderts gerät. Und er, ein junger Mann, der kein Blut sehen kann, ist als belgischer Konsul maßgeblich für die Verhandlungen und damit für das Leben der Menschen verantwortlich. Den größeren Raum dieses kleinen, aber wiederum feinen Romans nimmt die Geschichte von Patrick Nothombs Kindheit ein – starre Konventionen der belgischen Gesellschaft auf der einen und wilde Kindheit bei der Familie seines verarmten Künstler-Großvaters mit seinen vielen Kindern in den Ardennen auf der anderen Seite. Es geht um Freiheit. Die Befreiung von strikten Regeln, aber auch den Kampf gegen die Kolonialmächte. Sehr lesenswert. (E.B.)