Mit einem Buch auf Reisen zu gehen, ist immer eine gute Idee.
Tatiana de Rosnay – Célestine und die kleinen Wunder von Paris
C. Bertelsmann, 18 €
Verschlossen und abweisend hat sich der junge Martin nach dem Tod seiner Mutter in sich selbst zurückgezogen und gibt auch seinem Vater keine Chance, an ihn heranzukommen. Ausgerechnet die sich vorsichtig anbahnende Freundschaft zu Célestine, einer zunächst abweisenden älteren Obdachlosen, die in seiner Straße lebt, gibt ihm den Lebensmut zurück. Ein bisschen märchenhaft, zugleich mit Sozialkritik und irgendwie typisch französisch kommt diese wunderbare Geschichte daher. Charmant und leicht, aber dabei keinesfalls ohne Tiefgang. Die perfekte Strandlektüre für alle, die beim Sonnenbaden ihr Gehirn nicht komplett ausschalten wollen. (S.G.)
Lars Saabye Christensen – Meine chinesische Großmutter btb, 24 €
Ich war sehr gespannt, mehr über die Herkunft des von mir sehr geschätzten Autors zu erfahren. Es geht, wie der Titel vermuten lässt, um seine Großeltern. Wie kommt es, dass sich eine junge Kopenhagenerin Anfang des 20. Jahrhunderts allein auf eine lange, beschwerliche und gefährliche Seereise nach Hongkong macht? Genau dorthin, in diesen internationalen Meltingpot und vibrierenden Handelsplatz, hatte es den Dänen Jørgen Christensen bereits kurz zuvor verschlagen – zu seiner Arbeitsstelle bei Svitzers Bjergnings-Enterprise, die älteste Seerettungs- und Bergungsgesellschaft der Welt. Jørgen und die junge Kopenhagenerin sind Lars Saabye Christensens Großvater und Großmutter väterlicherseits.
Wer waren diese Menschen? Wie sah ihr koloniales, vom Handel geprägtes Leben aus? Erst als sein Vater auf dem Totenbett liegt, wagt es Lars Saabye Christensen, ihn nach jener Zeit zu fragen, die seine Großeltern im fernen Osten verbrachten. Eine Spurensuche beginnt. Lars Saabye Christensen hält sich akribisch an die vorhandenen Quellen. Das wiederum ufert für meinen Geschmack etwas aus. Ich hätte mir eine stringentere Erzählweise gewünscht, damit diese faszinierende Familiengeschichte lebendiger wirkt. (E.B.)
Elisabeth Herrmann – Blutanger
Goldmann, 13 €
Der 8. Fall führt Vernau ins tiefste Brandenburg. Ein Toter in Rumänien und ein ermordeter Bauer in Brandenburg – noch ahnt Anwalt Vernau nicht, worauf er sich bei der Verteidigung des jungen Lucian Sandu einlässt, der in die Ereignisse verwickelt zu sein scheint. Der Saisonarbeiter hat gestanden, seinen Chef brutal ermordet zu haben, doch es gibt Widersprüche, und bald ist Vernau sicher, dass Lucian mit seinem Geständnis jemanden schützen will. Auf den ersten Blick sind Verrat, Gier und Hass das Motiv. Aber als Vernau auf dem Hof die geheimnisvolle Rumänin Tina kennenlernt, ist er sich sicher, dass es auch um die Liebe geht. Und um ein furchtbares Geheimnis, das alle vernichten wird, sollte es jemals gelüftet werden.
Auch ihn selbst … Nach diesem Spannungsroman betrachtet man eine Gurke sicherlich mit anderen Augen. Aber lesen Sie selbst. (E.B.)
Norbert Horst – Lost Places. Wo die Toten schweigen
Goldmann, 17 €
Neue Serie, neues Personal. Ermittelt wird in Essen und im weiteren Ruhrgebiet. Die Polizeibeamten gehen kollegial miteinander um und ziehen an einem Strang. Das ist erfrischend anders, denn bei so vielen anderen Krimis geht es seitenweise um ermüdende Kompetenzstreitigkeiten. Auch die Ermittlungsarbeit ist unaufgeregter, sachlicher, aber dennoch packend. Hier versteht einer sein Handwerk. Kein Wunder. Norbert Horst hat lange Jahre selbst bei der Bielefelder Polizei gearbeitet, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Aber nun zum Inhalt: In einem Wald nahe Essen liegt ein verwahrloster Obdachloser tot in seinem Zelt. In einem gediegenen Mietshaus in der Essener Innenstadt wird eine ältere Frau leblos aufgefunden.
Und in einem leer stehenden, verfallenen Krankenhaus in Bochum werden hinter einer frisch gemauerten Wand drei Leichen entdeckt, eine davon bereits skelettiert. Dass alle drei Fälle zusammenhängen, erkennen Staatsanwältin Camilla Lopez und Kriminalhauptkommissar Deniz Müller erst, als sie einen Tipp von ihrem Freund, dem Journalisten Alexander Rahn (obgleich auch aus Essen nicht verwandt oder verschwägert mit Helmut), erhalten. Zu dritt kommen sie einer Mordserie auf die Spur – während die Täter bereits ihr nächstes Opfer im Visier haben. Und diese Geschichte ist hochspannend. Lesen! (E.B.)
Lavie Tidhar – Maror
Suhrkamp, 22 €
Maror sind die bitteren Kräuter, die in der jüdischen Kultur am Seder an Pessach gereicht werden. Ein treffender Titel für den Thriller des israelischen Autors, der mit seinem Roman einen Bogen spannt von 1974 bis 2008. Im Mittelpunkt stehen zwei Polizisten: Cohen, der Strippenzieher im Hintergrund, und Avi Sagi, der den korrumpierenden Versuchungen seines Jobs nicht widerstehen kann. Der Thriller zeigt Israels dunkle Geschichte. Der Patriot Cohen kennt nur eine Aufgabe – seinen Staat zu beschützen, auch wenn er dafür die bittersten Realitäten akzeptieren muss und gnadenlos danach handelt.
Cohen und Sagi haben es mit jüdischen, arabischen und türkischen Gangstern, mit der CIA und dem KGB, mit den Contras und den Kartellen, mit militanten Orthodoxen und anderen zu tun. Cohen versucht, „die Dinge in der Balance zu halten“, und kennt dabei keine Grenzen. Ein Epos, bei dem Gewalt und Verbrechen im Fokus stehen wie auch politische Skandale. Ein nachdenklich machende Geschichte über Moral und Realpolitik. (E.B.)
Marc-Uwe Kling – Views
Ullstein, 19,99 €
Marc-Uwe Kling sorgte mit „Views“ für den Überraschungserfolg des Sommers 2024. Und das zu Recht. Die 16-jährige Lena Palmer verschwindet spurlos. Drei Tage später taucht sie in einem unaussprechlich brutalen Video wieder auf, das in atemberaubendem Tempo viral geht. BKA-Kommissarin Yasira Saad soll Lena finden und die Täter identifizieren. Ihr bleibt wenig Zeit, denn schon gibt es erste gewalttätige Demonstrationen in deutschen Städten. Eine rechtsradikale Gruppierung namens „Aktiver Heimatschutz“ gewinnt rasant an Zulauf. Kann Yasira die Täter verhaften, bevor der Lynchmob zuschlägt und der Rechtsstaat zu wanken beginnt? Der Autor der Känguru-Chroniken zeigt sehr eindrücklich, wohin die Nutzung von Social Media und digitale Technologien führen kann. Das ist hochaktuell und zutiefst verstörend. (E.B.)
Sarah Pearse – Das Retreat
Goldmann, 17 €
Die Einheimischen nennen die Insel Reaper’s Rock – Fels des Sensenmanns. Vor Jahren hatte hier ein Serienkiller eine Gruppe Jugendlicher getötet, und man munkelt, der Ort sei verflucht. Nun wurde hier vor der malerischen Küste Devons ein Öko-Wellness-Retreat eröffnet, das Ruhe und Entspannung verspricht. Nichts deutet noch auf die dunkle Vergangenheit. Bis die Leiche einer jungen Frau auf den Felsen unterhalb des Yoga-Pavillons gefunden wird. Ein Unfall? Doch das Opfer war kein Gast, sie sollte eigentlich gar nicht auf der Insel sein, wie DS Elin Warner erfährt.
Am nächsten Tag ertrinkt ein Mann bei einem Tauchunfall, und Elin ahnt, dass es sich nicht um Zufälle handelt. Sie muss den Mörder finden, bevor sich die tödliche Geschichte der Insel wiederholt … Sarah Pearse hat ein Faible für abgeschlossene Settings mit einer überschaubaren Anzahl an Tatverdächtigen, die reihum mal mehr, mal weniger verdächtig sind. Leider taugt aus meiner Sicht dieses Mal keine der Figuren als Sympathieträger. Das erschwert das Mitfiebern, wer am Schluss nun übrig bleibt. (E.B.)
Amélie Nothomb – Das Buch der Schwestern
Diogenes, 23 €
Ein schmales Buch mit gewaltigem Inhalt. Ihr Stil ist elegant und federleicht findet Amélie Nothomb Worte für schier Unaussprechliches. Wieder steht eine seltsam anmutende Familie mit einem außergewöhnlich klugen Mädchen im Mittelpunkt des Romans. Ihre Eltern, Nora und Florent, lieben sich so innig, dass in ihren Herzen gar kein Platz für andere ist – noch nicht einmal für ihre Tochter, die somit schon sehr früh allein zurechtkommen muss.
Deshalb ist sie überglücklich, als ihre Schwester geboren wird. Die beiden geben sich, was die Eltern ihnen vorenthalten: Wärme und Geborgenheit. Sie gründen eine Band, aber zunächst ist immer der oder die dritte im Bunde im Weg. Stört die Symbiose der Schwestern. Bis eine von ihnen beschließt, ihren eigenen Weg zu gehen. Da wird die Schwesternliebe auf die Probe gestellt. Ein außergewöhnliches Lesevergnügen. (E.B.)
Rebecca Schirge – Meine Auszeiten: Ostwestfalen-Lippe
Droste Verlag, 16 €
„Durchatmen & Kraft schöpfen“ lautet der schöne Untertitel des reich bebilderten Buchs der Bielefelderin Rebecca Schirge. Es ist voller guter Idee, wie man sich selbst etwas Gutes tun kann. Einfach mal Auftanken – und das alles in (fast) unmittelbarer Umgebung. Mit einem Esel auf stillen Wegen wandern, bunte Sträuße aus Sommerblumen binden oder nachts an einer Burgruine nach den Sternen greifen: In Ostwestfalen-Lippe werden kleine Glücksmomente zur wertvollen Ich-Zeit. Rebecca Schirge hat inspirierende Wohlfühlorte entdeckt, die dazu einladen, den Alltag zu vergessen. Ob Yoga im Park, Picknick mit Ausblick oder eine Nacht auf dem Wasser: Von der kleinen Atempause für zwischendurch bis zur Auszeit für ein ganzes Wochenende ist alles dabei.
T. M. Logan – The Parents
Piper, 13 €
Die Prüfung ist bestanden – das muss ordentlich gefeiert werden. Fünf Teenager gehen in ein unübersichtliches Waldstück, doch nur vier von ihnen kommen wieder nach Hause. Und sie sagen offenbar nicht die ganze Wahrheit. Die ermittelnden Polizeibeamten sind frustriert, die Eltern verzweifelt. Was ist in jener Nacht passiert? Was, wenn etwas Furchtbares geschehen ist und das eigene Kind trägt die Schuld daran? T.M. Logan weiß, wie man einen packenden Thriller aufzieht. Wer ist wann und aus welchen Gründen verschwunden. Viele überraschende Wendungen sorgen für Spannung und eine überzeugende Auflösung bildet den furiosen Schlusspunkt. (E.B.)
Tana French – Feuerjagd
Fischer, 25 €
Es ist die direkte Fortsetzung von „Der Sucher“. Das ländliche Irland erlebt eine ungewöhnliche Hitzeperiode. Weit und breit keine Wolke am Himmel in Sicht. Die Farmer sorgen sich um Vieh und Ernte. Der ehemalige Polizist Cal, der vor über zwei Jahren aus Chicago auf die grüne Insel gezogen ist, arbeitet in seinem Tempo weiter als Tischler und erhält Unterstützung von Trey, einem jungen wortkargen Mädchen, das er unter seine Fittiche genommen hat. Alles geht seinen Gang, bis Treys Vater nach langer Abwesenheit aus London zurückkehrt und einen dubiosen „Freund“ im Schlepptau hat. Der Engländer setzt den Dorfbewohnern einen Floh ins Ohr und plötzlich ist mächtig Bewegung im Dorfgeschehen. Und jeder verfolgt seine eigene Agenda, die da heißen mag Rache oder Geld.
Eine hochexplosive Mischung. Tana French ist Meisterin der Dialoge, beobachtet genau und ist sehr präszise in ihren Schilderungen von Mensch und Natur. Das macht den Roman zu einem Lesevergnügen, auch wenn der erste Teil etwas Straffung hätte vertragen können. (E.B.)