Nun ist schon Halbzeit – die Ferien gehen in die zweite Runde. Haben Sie noch genug Lesestoff? Hier geht’s zum Futter.
Thommie Bayer – Sieben Tage Sommer
Piper, 22 €
Einen wunderbaren Sommer-Roman hat Thommie Bayer hier geschaffen. Er entführt die Leser an die Côte d’Azur. Hier besitzt der nicht unvermögende Max Torberg ein traumhaftes Haus. Dorthin lädt er fünf alte Bekannte ein, die ihm 30 Jahre zuvor bei einem Überfall das Leben gerettet haben. Seither sind sie sich nicht mehr begegnet und sollen nun eine Woche in seinem Haus verbringen. Da Max zunächst nicht da ist, kümmert sich Anja um das Wohlergehen der Gäste. Diese wissen nicht, dass die gute Fee des Hauses eine gute Bekannte des abwesenden Gastgebers ist und eigens dazu engagiert wurde, über das Verhalten der fünf Gäste minutiös zu berichten. Es entspinnt sich ein fesselnder E-Mail-Verkehr, der nach und nach enthüllt, welchen Plan Max verfolgt. (E.B.)
Heinz Strunk – Ein Sommer in Niendorf
Rowohlt, 22 €
Ausgerechnet Niendorf. Hier will Jurist Roth – Spross einer bekannten Familie – untertauchen, um in drei Monaten ein wichtiges Buch zu schreiben. Er will gnadenlos mit seiner Familie abrechnen und geht diszipliniert zu Werke – zumindest anfangs. Doch es ist heiß in diesem Sommer. Das Apartment stickig; erdrückend, wie der ganze spießige Ort an der Ostsee, der Flair und gute Restaurants vermissen lässt. Das Abhören der Tonbänder, auf der die Gespräche mit seinem Vater verewigt sind, geraten für Roth zur Tortur. Die Sätze, die er zu Papier bringt, sind nichtssagend, genügen seinen eigenen Ansprüchen nicht. Das ist ungeheuer frustrierend und somit jede Ablenkung willkommen. Selbst wenn sie in Gestalt des proletenhaften Vermieters, der zugleich Strandkorbdreher ist und das örtliche Spirituosengeschäft betreibt, daherkommt. Immer mehr lässt er sich von diesem Mann vereinnahmen – ein Glas gibt das andere, bis es für Roth kein Entrinnen mehr gibt. In bester Strunk’scher Manier wird hier eine teuflische Abwärtsspirale beschrieben, die neben komischen auch eine Menge tragischer Momente enthält. Ein literarischer Sog, dem man sich nicht entziehen möchte. (E.B.)
Erwin Grosche – Das ist nicht so …
Verlag Akademie der Abenteuer, 24,80 Euro
Schon das Cover fängt ein, was so reizvoll an Erwin Grosches Gedichten und Geschichten ist: Er hat sich den kindlichen Blick dafür bewahrt, dass das, was wir zu sehen meinen, sich vielleicht als etwas ganz Anderes entpuppt. Thront vorn auf dem Einband scheinbar ein Froschkönig, sitzt auf der Rückseite ein grün gekleideter Mann im Yogasitz. „Das ist nicht so, das ist ganz anders“: Diese poetische Möglichkeit zieht sich durch die Texte und die wunderbaren Zeichnungen von Hans Christian Rüngeler. Ein Buch, das Kindern und Erwachsenen ganz einfach Lust macht, die Welt mit anderen Augen zu betrachten. (S.G.)
Anne Tyler – Eine gemeinsame Sache
Kein & Aber, 26 Euro
Was macht eigentlich eine Familie aus? Was hält ihre Mitglieder zusammen, was treibt sie auseinander? Reicht eine Enttäuschung in der Kindheit, um uns für immer zu entfremden? Und ist es möglich, den eigenen Ehemann zu verlassen, ohne dass der er es merkt? Anne Tyler ist eine Meisterin darin, das fein gesponnene Netz menschlicher Beziehungen zu beschreiben – gut beobachtet, mit liebevollem Humor und immer so nah am Leben, dass wir uns bei bestimmten Verhaltensweisen selbst „ertappt“ fühlen. (S.G.)
Amélie Nothomb – Ambivalenz
Diogenes, 20 €
Claude umgarnt Dominique, liest ihr jeden Wunsch von den Lippen ab, verwöhnt sie mit Champagner und Chanel N° 5. Dominique wähnt sich im siebten Himmel. Doch nach der Geburt ihrer Tochter wandelt sich der einst so charmante Galan. Er beachtet weder Mutter noch Épicène, dabei hatte er sich ein Kind doch so sehr gewünscht. Seiner klugen wie eigenständigen Tochter ist ihr launenhafter Vater egal. Er kann sie nicht verletzten. Verbissen verfolgt Claude seine Karriere. Er ist erfolgreich und will unbedingt zur feinen Pariser Gesellschaft. Seiner Frau ist das nicht wichtig, sie ist einsam und verzweifelt, bis sie in ebenjener Hautevolee ein Freundin findet. Doch gehört das nicht auch zum perfiden Plan von Dominiques Mann? Mit gewohnt leichter Feder ergründet Amélie Nothomb menschliche Abgründe, lotet Motive aus und kreiert ungeheuer ungewöhnliche menschliche Konstellationen. Dabei könnte auch in diesem Roman die Rache eine mächtige Triebfeder sein. Ein rasantes Lesevergnügen. (E.B.)
Michael Krüger – Was in den zwei Wochen nach der Rückkehr aus Paris geschah
Suhrkamp, 22 Euro
Der Ich-Erzähler, Leiter einer Künstler-Agentur, ist ein älterer Mann, der lieber beobachtet und zuhört, als selbst im Mittelpunkt zu stehen. Ausgerechnet an ihn hängt sich auf dem Rückweg von Paris nach München ein etwas heruntergekommener, gleichwohl von sich selbst sehr eingenommener „Alter“, den der höfliche Erzähler nicht mehr abzuschütteln vermag. In München angekommen, scheinen alle seine Freunde und Bekannten in dem alten Mann einen berühmten Schauspieler zu erkennen, dem sie bald zu Füßen liegen. Wie „der Alte“ das Leben des fassungslosen Erzählers in kürzester Zeit auf den Kopf stellt, beschreibt Michael Krüger mit viel Witz und in geschliffener Sprache. (A.H.)
Mikita Franko – Die Lüge
Hoffmann und Campe, 24 €
Sein ganzes Leben eine verdammte Lüge. So sieht es der heranwachsende Mikita, der als Fünfjähriger nach dem Tod seiner Mutter von ihrem Bruder adoptiert wird. Bei Slawa und seinem Partner Lew erlebt er eine glückliche Kindheit. Schwierig wird es erst, als Mikita zur Schule kommt. Denn Homosexualität darf in Russland nicht offen gelebt werden. Slawa fürchtet, dass die Behörden Mikita in ein Waisenhaus stecken würden. Das Versteckspiel beginnt, eine Lüge zieht die nächste nach sich. Der Junge ist zutiefst verunsichert, reagiert mit Wut und Aggressionen und als er dann noch herausfindet, dass auch er sich zu Männern hingezogen fühlt, wehrt er sich mit Händen und Füßen. Denn er will der Propaganda, dass gleichgeschlechtliche Eltern homosexuelle Kinder „produzieren“ keinesfalls Nahrung geben. „Die Lüge“ ist ein von Grund auf ehrliches und sehr lesenswertes Debüt. (E.B.)
Irmin Burdekat – Die lange Stille
tpk, 20 €
Werner Weber hat eigentlich keinen Plan, aber er macht einfach. Oder lässt auch mal andere machen. So lernt er auch Karin kennen, die Lange Still, nicht ahnend, dass sie sein Fels in der Brandung werden wird, wenn seine turbulente Karriere – angefangen bei seiner Legre in der Druckerei eines Verlags über das Schreiben von Musikkritiken bis zum Chef einer eigenen Werbeagentur und späterer Diskothekenbetreiber mit Beziehungen zu mafiösen Kreise – dem Hamster im Rad einen ordentlichen Drehwurm verpasst. Karin ist da und erdet ihn. Bis er sie hintergeht. Burdekat pflegt einen lockeren wie prägnanten Stil, sprüht vor Ideen und findet die Komik in der Tragik. (E.B.)
Friedrich Ani – Letzte Ehre
Suhrkamp, 12 €
Die siebzehnjährige Finja Madsen kommt nach einer Party nicht nach Hause. Die Polizei tappt ohne irgendwelche Anhaltspunkte komplett im Dunklen. Erste Adresse ist wie immer das nahe persönliche Umfeld des vermissten Mädchens. Die Party fand im Haus von Stephan Barig, dem Lebensgefährten der Mutter, statt. Der gibt sich kooperativ, aber Oberkommissarin Fariza Nasri traut ihm nicht. Was hat er mit Finjas Verschwinden zu tun? Allmählich tastet sich Nasri voran und taucht in eine höchst düstere Welt ein, von deren Existenz sie lieber nichts gewusst hätte. Eine Welt voller Gewalt und männlicher Machtphantasien. (E.B.)
Elisabeth Herrmann – Ravna – Die Tote in den Nachtbergen
cbj, 20 €
Ravna Persen, Studentin der Polizeihochschule in Oslo, fährt zu ihrer Mutter in den hohen Norden Norwegens, um ihr beim Zusammentreiben der Rentiere zu helfen. Jedes Jahr im Sommer kommen alle Samen der Renzüchterfamilien zusammen. Ein faszinierendes Schauspiel in einer entlegenen Gegend, die ohne Handyempfang auskommt. Ravna ist nicht bei allen willkommen, einige Samen betrachten es als Verrat, dass sie zur Polizei gegangen ist. Als die junge Polizeianwärterin bei der Suche nach einem verirrten Rentier in eine Felsspalte stürzt und sich nur mit Müh und Not befreien kann, macht sie in der Höhle eine grauenvolle Entdeckung: eine von Geröll verschüttete Leiche – offenbar ein Mädchen. Es könnte sich um die seit zehn Jahren vermisste Tochter des Tierarztes handeln. Bald schon ist die Polizei vor Ort, um den Fall zu untersuchen. Doch ohne Ravnas Unterstützung, die ihn der Kultur der Samen zuhause ist kommen sie nicht weiter. Für die angehende Polizistin eine schwierige Situation, sie sitzt zwischen den Stühlen. Aber ihr Wille, dem Täter auf die Spur zu kommen, wird zur treibenden Kraft … Ein großartiger All-Age-Roman. (E.B.)
Henri Faber – Kaltherz
dtv, 16,95 €
Der Alptraum aller Eltern. Das Kind wird nur kurz im Wagen gelassen und ist plötzlich spurlos verschwunden. Nur acht Minuten. Länger war die fünfjährige Marie nicht alleine. Die Polizei wartet auf eine Lösegeldforderung, die nicht kommt. Die Mutter macht sich schwere Vorwürfe. Dass ihr Mann auch noch auf ihr rumhackt, tut ein Übriges. Die unbequeme Kommissarin Kim Lansky übernimmt den Fall. Es ist ihre letzte Chance, sich als Ermittlerin zu beweisen, denn bislang ist sie aus jeder Abteilung rausgeflogen. Bald schon steht das Kindermädchen, das die Mutter engagiert hat, im Fokus der Ermittlungen. Als deutlich wird, dass der Vater die Nanny schon vorher kannte, stellt sich die Frage, welchen Plan er verfolgt. Oder haben seine Psychospielchen einen ganz anderen Zweck? Henri Faber weiß, wie ein guter Thriller funktioniert. (E.B.)
Kathleen Kent – Die Tote mit der roten Strähne
Suhrkamp, 16,95 €
Detective Betty Rhyzyk aus New York City hat es beim Dallas Police Department, Abteilung Narcotics, im konservativen Texas alles andere als leicht. Sie stammt aus einer polnischen Cop-Dynastie, ist lesbisch, auffällig rothaarig und wirklich sehr groß. Die Situation wir für sie nicht besser, als gleich die erste von ihr geleitete Razzia so gründlich in die Hose geht. Der mexikanische Kartell-Boss entkommt und am Ende haben einige Menschen – Kriminelle, Polizisten und Zivilisten – ihr Leben verloren. Aber Betty gibt nicht auf. Neben Drogenkartellen und Clans hat sie es mit fundamentalreligiösen Sekten und einem durchgeknallten Stalker zu tun. Dieser Thriller hat nicht „nur“ eine höchste interessante Protagonistin, die immer einen guten Spruch auf den Lippen hat, um sich in dieser eingefahrenen Männerwelt zu behaupten, sondern Kathleen Kent schreibt auf den Punkt. Gerne mehr davon. (E.B.)
Daniel Dencik – Radsportherz
Covadonga, 14,80 €
In fünfzehn Kapiteln beschreibt Daniel Dencik anhand einer Tour de France, einer Straßenweltmeisterschaft und des traditionellen Saisonabschluss-Klassikers, der Lombardei-Rundfahrt, was die unwiderstehliche Anziehungskraft seines Lieblingssports ausmacht. Das Resultat ist ein mitreißendes, tiefgründiges Portrait der oft unverstandenen Straßenradsports, der seinen Reiz maßgeblich daraus bezieht, dass man nicht alles sieht…
Bereits seit Kindertagen ist der dänische Schriftsteller und Filmregisseur Daniel Dencik ein begeisterter Anhänger des Straßenradsports. Er hat bereits mehrere Dokumentarfilme über Radrennfahrer gedreht, für die Tageszeitung „Politiken“ berichtete er wiederholt als Reporter von großen internationalen Rennen, und 2017 veröffentlichte er dann ein viel beachtetes, von der Kritik gefeiertes Buch mit literarischen Annäherungen an seinen Sport. Nun erscheint es unter dem Titel „Radsportherz“ erstmals auch in deutscher Übersetzung.