WELTURAUFFÜHRUNG BEIM FILM + MUSIKFEST

„Man beginne immer mit einer Explosion, und dann ganz langsam steigern!“ In Anlehnung an die Billy Wilder zugeschriebene Bemerkung über die Kunst der Regie startet das Film + MusikFest mit der Welturaufführung einer Neukomposition. Christiane Heuwinkel, Vorstandsmitglied der Friedrich Wilhelm Murnau-Gesellschaft, verrät, welche Rolle die Musik für den Stummfilm spielt.

Schon im Titel des Film + MusikFestes steht die Musik gleichberechtigt neben dem Film. Warum war und ist es Euch so wichtig, die Filme mit Live-Musik zu begleiten?

Christiane Heuwinkel: Der Stummfilm war niemals stumm. Schon die ersten Filmvorführungen auf Jahrmärkten und im Zirkus wurden musikalisch begleitet. Mit der Etablierung des Mediums Film wurde das stationäre Kino als Alternative zu Theater und Opernhaus zum Teil einer neuen Alltagskultur und übernahm deren Formen: den roten Bühnenvorhang, die Platzanweiser, die elaborierte Musik. Damit entstand der neue Berufszweig des Filmkomponisten, der originale Orchesterpartituren für die großen Filme des Weimarer Kinos schuf. „Kleinere“ Filme kamen häufig mit Vorschlagslisten populärer Melodien für Stummfilmpianisten in die Kinos. Unsere Filmkonzerte verbinden die Einmaligkeit der Live-Musik mit der Kinosituation zu einem ganz besonderen Event.

Musik spielt auch in fast jedem Tonfilm eine Rolle. Welche Funktion hat sie ganz allgemein im Film und welche speziell im Stummfilm?

Christiane Heuwinkel: Filmmusik hat viele Funktionen. Schlimmstenfalls übertönt sie nur die im Stummfilm manchmal geradezu tosend laute Stille. Besserenfalls unterstützt sie die emotionale Wirkung der Filmbilder. Bestenfalls gibt sie dem Film noch eine weitere Dimension, indem sie mitgeht, unterstreicht, konterkariert, mal dominant, mal zurückhaltend ist – und dies in bestem Verständnis des filmkünstlerischen Konzepts.

Das 31. FMF startet mit der Welturaufführung einer neukomponierten Musik von Uwe Dierksen, Posaunist im renommierten Ensemble Modern, Frankfurt, in Kooperation mit arte. Wie ist Euch dieser Streich gelungen und kannst Du schon etwas über die Komposition verraten?

Christiane Heuwinkel: Manchmal muss man auch ein wenig Glück haben. Eine Freundin von mir arbeitet im Team des Ensemble Modern in Frankfurt. Sie plauderte mit dessen Posaunisten Uwe Dierksen, der selbst Erfahrung mit Stummfilmmusik hatte und erwähnte unser Film + MusikFest …

Uwe Dierksen hat bereits eine Komposition für Paul Czinners Film „Der Geiger von Florenz“ geschrieben, die von ARTE produziert und auf dem Sendeplatz für Stummfilm ausgestrahlt wurde, ebenso wie eine Musik zum „Turm des Schweigens“ von Johann Guter.

Zu seiner Neukomposition zu „Menschen am Sonntag“ schrieb er uns: „Meine Musik orientiert sich an der harmonisch komplexen Musik eines Kurt Weill oder Hanns Eislers. Die Grundstimmung ist eine unterhaltend-melancholische: Gängige Schlager der 20er Jahre werden nicht zitiert, sind aber in ihrem Gestus präsent, weil ich Melodien und Harmonien erfinde, die ähnlich klingen, aber niemals, so hoffe ich, überreizt werden. Zudem mahnt der Blick aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert zu einer klugen Durchdringung und einer abstrakten Haltung gegenüber der Wahl der musikalischen Mittel, denn natürlich hat sich seit den zwanziger Jahren die allgemeine Musikrezeption beträchtlich verändert.“ Dass die Hanns Bisegger Stiftung diese Komposition finanziell gefördert hat und wir ARTE als Kooperationspartner gewinnen konnten, ist für uns ein großes Glück.

Es sind darüber hinaus wieder ganz große Orchester aber auch kleine Formationen dabei, was macht jeweils den besonderen Reiz aus?

Christiane Heuwinkel: Das Filmkonzert in der Oetkerhalle ist für viele Menschen die Erstbegegnung mit dem Stummfilm. Sie kennen die Namen von Ernst Lubitsch, Billy Wilder oder King Vidor eventuell noch, haben aber keine Filme vor Augen. In Verbindung mit einer großen musikalischen Begleitung ist eine solche Neuentdeckung hochattraktiv – zum Beispiel für Familien mit Kindern, denen wir eine Nachmittagsveranstaltung, das „Kino für Kurze“ mit Komödien von Buster Keaton, Harold Lloyd, Stan Laurel & Oliver Hardy präsentieren. Oder Lubitschs elegant-subversive „Madame Dubarry“, oder die sensationelle Hollywood-Satire „Showpeople“, oder ….

Die Veranstaltungen im Lichtwerk-Kino mit Stummfilmpianisten oder kleinen Ensembles sind intimer; hier zeigen wir auch Filme, die das größte Kino der Stadt, die Oetkerhalle, nicht füllen würden, von deren Bedeutung wir aber überzeugt sind. Dazu gehört die unfassbar hellseherische „Stadt ohne Juden“, die wir als Beitrag zum Festjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ verstehen.

Programm im Überblick

Freitag 22.10., 20.00 Uhr, Rudolf-Oetker-Halle

Menschen am Sonntag

Deutschland 1930, 74 Min.

Regie: Robert Siodmak, Edgar G. Ulmer

Drehbuch: Billy Wilder

Musik: Uwe Dierksen

Begleitung: Uwe Dierksen Quartett

Welturaufführung

Das 31. FMF startet mit der Welturaufführung einer neukomponierten Musik von Uwe Dierksen, Posaunist im renommierten Ensemble Modern, Frankfurt, in Kooperation mit arte. Mit dem Dream Team Robert Siodmak, Edgar C. Ulmer und Billy Wilder versammelt das filmische Meisterwerk der Neuen Sachlichkeit die wohl prominentesten und bedeutendsten Vertreter des Weimarer Kinos. Der Film schildert das Leben junger Menschen in der Metropole Berlin in einer halbdokumentarischen Collage aus Spielszenen und Sozialreportage.

Sonntag 24.10., 17.00 Uhr, Rudolf-Oetker-Halle

Madame Dubarry

Deutschland 1919, 113 Min.

Regie: Ernst Lubitsch

Mit Pola Negri, Emil Jannings, Reinhold Schünzel, Harry Liedtke

Musik: Stephan Graf von Bothmer.

Begleitung: Metropolis Orchester Berlin

Im revolutionären Jahr 1919 mit seinem von Armut und Hunger gezeichneten „Steckrübenwinter“ dreht der Berliner Ernst Lubitsch einen Film über das elegante Zeitalter im Frankreich der Vorrevolution. Seine Heldin ist eine Aufsteigerin, erst Hutmacherin, dann Mätresse des Königs, im letzten Bild des Films auf dem Schafott. Doch mehr Glanz als Elend zeigt der Regisseur, der gezwungenermaßen nicht an den Originalschauplätzen in Versailles, sondern in Potsdam drehen muss. Schnell, leicht, unmoralisch, abgründig und zynisch: der legendäre „Lubitsch touch!“

Donnerstag 28.10., 20.00 Uhr, Lichtwerk

Die Stadt ohne Juden

Österreich 1924, 80 Min.

Regie: K. H. Breslauer

Mit Johannes Riemann, Eugen Neufeld, Hans Moser

Musik: Richard Siedhoff

Begleitung: Richard Siedhoff, Klavier, Mykyta Sierov, Oboe

Ein Titel, der uns Heutigen das Blut in den Adern gefrieren lässt. Ein Film, 1924 gedreht, nach fast 100 Jahren wiederentdeckt, restauriert und nun der Öffentlichkeit übergeben. Ein Film, der zum ersten Mal überhaupt das Thema Antisemitismus aufnimmt und in eine satirische Dystopie von unfassbarer Hellsichtigkeit über die Hetze gegen Juden umsetzt.

Sonntag 31.10., 15 Uhr, Rudolf-Oetker-Halle

Kino für Kurze

Kurzfilmprogramm für Kinder, Eltern, Großeltern

»Sherlock jr«, 1924, 45 Min. Mit Buster Keaton

»Liberty« (Die Sache mit der Hose), 1929, 20 Min. Mit Stan Laurel und Oliver Hardy und einem Überraschungsfilm

Musik: Axel Goldbeck

Begleitung: Axel Goldbeck und das Cinematografische Orchester

Ein Filmvorführer, der einschläft und sich für den berühmtesten Detektiv aller Zeiten hält … Ein entlaufenes Ganovenpaar auf der Flucht vor der Polizei … Hier geht’s schreiend komisch und nervenzerfetzend zugleich zu.

Mittwoch 3.11., 20.00 Uhr, Lichtwerk

The Goose Woman (Mordsache Gänsemagd)

USA 1925, 83 Min.

Regie: Clarence Brown

Mit Louise Dresser, Jack Pickford, Constance Bennett

Musik: Daniel Kothenschulte, Klavier

Der „Frauenregisseur“ Clarence Brown, berühmt u. a. durch sieben gemeinsame Filme mit Greta Garbo und sechs mit Joan Crawford, zeigt seine Heldin Mary Holmes, gespielt von der spätere Oscar-nominierten Louise Dresser, als verkommene Alkoholikerin, die in einer schmutzigen Hütte mit ihrem Sohn mehr schlecht als recht von der Gänsezucht lebt. Ihre Stummheit birgt das Geheimnis ihres früheren Lebens als Opernstar. Marie de Nardi, so ihr früherer Künstlername, hatte bei der Geburt ihres illegitimen Sohnes die Stimme verloren, was sie ihn immer noch spüren lässt. Einen Mordfall in der Nachbarschaft, der die Sensationspresse anzieht, nimmt sie als Chance, sich als (falsche) Zeugin zu melden, um einmal wieder ins Licht der Öffentlichkeit zurückkehren zu können …

Freitag 5.11., 20.00 Uhr, Rudolf-Oetker-Halle

Showpeople (Es tut sich was in Hollywood)

USA 1928, 79 Min.

Regie: King Vidor

Mit Marion Davies, William Haines

Musik: Carl Davis

Begleitung: Bielefelder Philharmoniker

Dirigat: Bernd Wilden

Im vager Anlehnung an die Lebensgeschichte der Stummfilmdiva Gloria Swanson schuf King Vidor eine brillante Satire auf die Traumfabrik. Im letzten Jahr des Stummfilms reflektiert der Film satirisch und liebevoll zugleich das Genre des Slapsticks, das Starsystem und Hollywood überhaupt.

Sonntag 7.11., 17.00 Uhr, Rudolf-Oetker-Halle

Girl Shy (Mädchenscheu)

USA 1924, 87 Min.

Regie: Fred C. Newmeyer, Sam Taylor

Mit Harold Lloyd

Musik: Robert Israel

Begleitung: Braunschweiger Staatsorchester

Dirigat: Robert Israel

Ausgerechnet der schüchterne, liebesunerfahrene Schneider Harold Meadows (Harold Lloyd) will mit seinem Erstlingswerk „The Secret of Love“ die literarische Welt erobern – und nicht nur sie. Wie man eine ernsthafte Liebesgeschichte mit einer Slapstickkomödie verknüpft und überdies die wohl spektakulärste Hertzjagd der Filmgeschichte inszeniert, das zeigt Harold Lloyd in diesem unfassbar komischen Film, in dem der Schauspieler auch als Produzent fungierte, um sich größtmögliche künstlerische Freiheit zu verschaffen.

Friedrich Wilhelm-Murnau Gesellschaft e.V. | Gefördert durch das Kulturamt Bielefeld

www.murnaugesellschaft.de