Von der Wandelbarkeit des Erinnerns
Es geht um die Kunst des Erzählens, um die unterschiedlichen Facetten des Erinnerns, um Wahrheit und Dichtung. Mit zehn Veranstaltungen lädt die Stadtbibliothek am Neumarkt unter der Überschrift „Von der Wandelbarkeit des Erinnerns“ vom 5. bis 28. Oktober zu den 27. Literaturtagen Bielefeld ein. Und damit auch zu außergewöhnlich berührenden Literaturpräsentationen. Wie immer umrahmt durch musikalische Beiträge aus der Bielefelder Musikszene.
Erinnerungen werden mal verdrängt, mal wird ihnen nachgespürt. Nicht immer ist das Erinnern leicht. Und so können sie das Gegenwärtige überschatten oder beschönigen. „Doch Erinnerung ist letztlich das, was uns ausmacht“, sagt Dr. Iulia Capros, kommissarische Leiterin der Stadtbibliothek, mit Blick auf die zehn AutorInnen, die das Erinnern auf vielfältige Art und Weise einfangen und thematisieren. So wie Abbhas Khider, der die diesjährigen Literaturtage eröffnet (5.10.). Er flüchtete aus seiner Heimat und landete nach jahrelanger Flucht schließlich in München. In seinem sechsten Roman „Der Erinnerungsfälscher“ stellt er das literarische Thema „Erinnerungen“ in den Mittelpunkt und bereichert es um eine beeindruckende neue Facette: Das Fälschen von Erinnerungen. „Erinnerungen werden so zu Geschichten, die erzählt werden. Es ist wunderbar wie Khider damit spielt“, betont Angelika Teller, Veranstaltungsmanagerin der Stadtbibliothek. „Noch dazu ist er charismatisch, ein wunderbarer Literat und ein Philologe durch und durch“, erklärt Klaus-Georg Loest, der die Eröffnung moderiert und damit auch stellvertretend die Freunde und Förderer der Stadtbibliothek e.V. und die Literarische Gesellschaft Ostwestfalen-Lippe, Literaturhaus Bielefeld e.V. repräsentiert, die die Literaturtage wieder unterstützen.
Mit Alois Hotschnig heißt das Team der Literaturtage Bielefeld einen Autor willkommen, der in seinem aktuellen Roman „Der Silberfuchs meiner Mutter“ auf Spurensuche geht (7.10.). Und dafür tief in die Vergangenheit eintaucht. „Es ist eine Hommage an das Schicksal einer Frau, die sich durch die Vergangenheit nicht brechen lässt“, sagt Angelika Teller. „Mutabor“ heißt der neue Roman von Norbert Scheuer, den er den BielefelderInnen vorstellt (10.10.). „Man kann seine Bücher einzeln lesen, aber spannend ist, dass seine Nebenfiguren in anderen Werken plötzlich zu Hauptfiguren werden“, unterstreicht die Veranstaltungsmanagerin. So wie die junge, elternlose Nina Plisson in „Mutabor“, die wissen will, was aus ihrer Mutter geworden ist. Daher beginnt sie, Erinnerungen aus ihrer frühen Kindheit aufzuschreiben.
Ulf Erdmann Ziegler lenkt mit „Eine andere Epoche“ am 12.10. den Blick auf zwei Ereignisse, die den routinierten Politikbetrieb aus dem Alltagstrott reißen sollten:
Zum einen fliegt im Herbst 2011 die rechtsextreme Zelle NSU auf. Gleichzeitig tritt der damals amtierende Bundespräsident Christian Wulff zurück. Ziegler widmet sich der politischen und medialen Wahrnehmung dieser beiden Ereignisse. Mit einem an der Fotografie geschulten, unbestechlichen Blick, voller Hingabe, Witz und Traurigkeit erzählt die Kölner Fotografin Bettina Flitner in ihrem Debüt „Meine Schwester“ (14.10.) autobiografisch die Geschichte einer innigen Geschwisterbeziehung. Sie endet jäh, als ihre Schwester sich, wie ihre Mutter, das Leben nimmt. „Es ist ein mutiges Buch, das Tabus bricht. Eins über Depressionen und die Gespenster der gemeinsamen Vergangenheit“, macht Angelika Teller deutlich.
Ins Zentrum ihres für den Preis der Leipziger Buchmesse nominierten Romans „Zukunftsmusik“ (18.10.) stellt Katerina Poladjan vier Frauen aus vier Generationen irgendwo in Russland am 11. März 1985. Begleitet von Chopins Trauermarsch, der in den 80er Jahren in der UdSSR nach dem Tod eines Generalsekretärs immer im Radio zu hören war. „Keiner ahnte, was kommt. Alles ist flüchtig“, so Dr. Iulia Capros mit Blick auf das Leben am Wendepunkt, das Poladjan einfängt. Mit „Welten auseinander“ präsentiert Julia Franck (20.10.) schließlich einen autofiktionalen Roman, mit dem sie ihre LeserInnen ganz nah an sich und ihre Herkunftsfamilie heranlässt. Eine Ost-West-Geschichte, bei der es natürlich auch ums Erinnern geht.
Ganz ohne aufzurechnen. „‘Die Arbeit der Vögel. Seelenstenogramme‘ von Marica Bodrožić ist dagegen eine Art innerer Monolog“, so Klaus-Georg Loest. Bodrožić formt ihren Prosa-Text ausgesprochen lyrisch, erforscht das „Innenleben der Wörter“ und erzählt dabei unerhörte Geschichten (24.10.). Einen ganz anderen Blick auf die Welt gewährt Schriftsteller, Dramatiker und Drehbuchautor Jaroslav Rudiš, der mit seiner „Gebrauchsanweisung fürs Zugfahren“ (26.10.) seine Leidenschaft für die Gleise dieser Welt offenbart. „Er wird die Bühne mit Witz rocken“, verrät Angelika Teller. Und zu guter Letzt begrüßt Bielefeld Natascha Wodin (28.10.). Sie verknüpft in ihrem Roman „Nastjas Tränen“ das Schicksal ihrer Protagonistin mit ihrer eigenen Geschichte. Im Heimweh dieser Ukrainerin erkennt sie das Heimweh ihrer Mutter wieder. „Wir greifen mit unserem Programm auch in diesem Jahr wieder gesellschaftlich existentielle und brisante Themen auf“, blickt Dr. Iulia Capros auf die 27. Literaturtage Bielefeld.