BIELEFELDER GESPRÄCH
Was für eine Stadt will Bielefeld sein? Das ist die große Frage der Zukunft. Zu einer bewährt konstruktiven Diskussionsrunde kam der Beirat des Tips-Verlags in der Founders Foundation zusammen. Vertreterinnen und Vertreter aus Wirtschaft, Handel, Gastronomie, Handwerk, Kunst und Kultur, Stadtmarketing, Diakonie, Wirtschaftsförderung und den Hochschulen, berichteten, wie aus ihrer Sicht ein neues Stadtbild aussehen könne. Konsens bestand darüber, dass sich Bielefeld selbstbewusst als Oberzentrum begreifen und mutig sein müsse.
MARTIN KNABENREICH
Geschäftsführer Bielefeld Marketing
(lacht): Was für eine Stadt Bielefeld sein will? Das ist natürlich die Eine-Million-Dollar Frage. Städte wandeln sich und stehen vor ähnlichen Herausforderungen. Mich treibt das Konzept der 15-Minuten-Stadt um. Das heißt, alle Wege des Alltags – und alles, was man zum Leben braucht – sind in weniger als 15 Minuten erreichbar. Arbeit, Gastronomie, Einkaufsmöglichkeiten, Kultur, gesellschaftliches Miteinander, soziale Einrichtungen, Grünflächen wie Parks oder in unserem Fall der Teuto – alles ist in einer Viertelstunde oder weniger erreichbar. Mit einem guten Mix in der Innenstadt kann das funktionieren. Vor allem müssen wir den Menschen die Ängste vor einem Wandel nehmen. Darüber hinaus gilt es, insgesamt komplexer zu denken und bei unseren Überlegungen das Thema Mobilität miteinzubeziehen. Braucht eine vierköpfige Familie wirklich drei Autos? Welche Wege können mit dem Rad, E-Roller, zu Fuß oder mit dem öffentlichen Nahverkehr zurückgelegt werden? Wir müssen unsere Verhaltensmuster in Frage stellen. Der Weg wird anstrengend, aber ich bin optimistisch, dass es gelingt, dass Bielefeld eine Stadt der Möglichkeiten wird. Das setzt eine Vielzahl an sozialen Komponenten voraus. Eine lebenswerte Stadt bietet allen Menschen Möglichkeiten. Bielefeld ist nicht die Highlight-Stadt, die mit einem Eiffelturm punktet, aber wir haben hier eine optimale Größe, um Dinge zu Ende zu denken.
PETRA PIGERL-RADTKE
Hauptgeschäftsführerin IHK Ostwestfalen zu Bielefeld
Eine Stadt der Möglichkeiten setzt wirtschaftliche Prosperität voraus. Wir müssen mitdenken, dass alles, was wir gestalten wollen und müssen, auch bezahlt werden muss. Daher lohnt es sich, nicht nur darüber nachzudenken, wie wir leben wollen, sondern auch wovon. Insofern können wir uns sehr glücklich schätzen, dass wir in der Region eine starke Industrie haben, die bislang vergleichsweise gut durch die Corona-Pandemie gekommen ist. Eine Stadt mit einer Durchmischung aus Leben – Arbeiten – Wohnen ist sicher ein charmantes Konzept. Dabei gilt es in Bezug auf die Flächennutzung, den Raum für Arbeitsplätze ausreichend zu bedenken, Wohn- und Arbeitsflächen nicht gegeneinander auszuspielen, sondern miteinander zu denken. Ferner halte ich es für bedeutsam, das Bielefelder Umland unbedingt miteinzubeziehen. Bielefeld ist das Oberzentrum der Region und zahlreiche Pendlerinnen und Pendler legen hierhin ihren Arbeitsweg zurück. Wie auch Kundinnen und Kunden und der Lieferverkehr berücksichtigt werden müssen – kurzum alle Wirtschaftsverkehre haben hohe Relevanz, und das Mobilitätsversprechen ist als Investitionsschutz für die Wirtschaft zu verstehen. Wir brauchen einen echten Kompromiss, der die gute Erreichbarkeit der Innenstadt ebenso sicherstellt wie die hohe Aufenthaltsqualität – das alles gemeinsam zu denken, wird unsere Aufgabe der nächsten Zeit sein. Und es mutig, mit Freude und gemeinsam anzugehen.
PASTOR ULRICH POHL
Vorstandsvorsitzender der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
ch sehe Bielefeld auf drei Säulen aufgestellt: ökologisch, sozial und wirtschaftlich. Ich denke, bei dem Aspekt ökologisch sind wir uns alle einig. Wir müssen kräftig investieren, um so schnell wie möglich CO2-neutral zu werden. Allerdings klaffen zum Teil Bekenntnis zu mehr Nachhaltigkeit bei den Menschen und das tatsächliche Verhalten auseinander. Ich verstehe Bielefeld als Gesundheitsstadt. Und ja, auch ein diakonisches Unternehmen, wie wir es sind, muss wirtschaftlich arbeiten, um Zukunft zu gestalten. Für mich ist das Miteinander der gemeinsame Nenner. Und ich gebe Frau Pigerl-Radtke recht, dass wir das Umland im Blick behalten und nicht allein auf Bielefeld schauen. Nicht jeder unserer 23.000 Mitarbeitenden – in Bielefeld arbeiten rund 10.000 Menschen, davon kommen etwa 5.000 bis 6.000 von außerhalb – kann seinen Arbeitsplatz mit dem Rad erreichen.
DR. LARS KRUSE
Leitung Hochschulkommunikation Fachhochschule Bielefeld
Aus Sicht der Hochschulen in Bielefeld gibt es das Interesse, dass die Stadt noch mehr als Studierendenstadt und als Wissenschaftsstadt in den Fokus rückt. Bielefeld wie die Region kann gut ausgebildeten Nachwuchs bestens gebrauchen, und der Nachwuchs belebt die Stadt. Das ist perspektivisch unverzichtbar mit Blick auf die Innenstadt und die starke, in der Region ansässige Wirtschaft. Wir wollen mit unserem großen Studienangebot junge Menschen von außen nach Bielefeld locken. Und wir möchten, dass sie bleiben. Bielefeld ist für viele eine unbekannte Stadt, dabei aber höchst attraktiv. Das muss sichtbarer werden, sodass Studierende sagen: „Ja, hier möchte ich später meine Kinder aufwachsen sehen. Hier kann ich auch beruflich Karriere machen.“ Dazu passt das Thema Nachhaltigkeit, das für die FH in jeder Beziehung ganz oben auf der Agenda steht: Erst jüngst haben wir für das Projekt „Innovation Campus for Sustainable Solutions“ grünes Licht erhalten und wollen so in den kommenden fünf Jahren gemeinsam mit unseren Partnern von der Universität Bielefeld und aus der regionalen Wirtschaft Projekte in der Größenordnung von 8,8 Millionen Euro verwirklichen. Und noch ein Thema brennt uns zurzeit unter den Nägeln: Bielefeld hat eine gute Willkommenskultur – auch für Geflüchtete. Die gilt es auszubauen, und die Hochschulen der Stadt sind wichtiger Teil dieser Kultur. Ein aktuelles Beispiel ist das Projekt „Study On, Ukraine!“ des International Offices der FH. Das Programm richtet sich an geflüchtete Studierende aus der Ukraine. Ihnen werden nicht nur Deutschkurse angeboten, sie erhalten auch ein Stipendium, können von vornherein Kurse belegen, die ihnen Punkte bringen und erhalten jede Menge studien- und lebenspraktische Unterstützung. Ein Angebot – so habe ich mir sagen lassen –, das seinesgleichen sucht!
DR. JENS PRAGER
Hauptgeschäftsführer Handwerkskammer Ostwestfalen zu Bielefeld
Für mich ist Bielefeld kein Bild, sondern eher ein Puzzle. Einige Teilchen werden bereits optimiert, aber das ist in der Öffentlichkeit nicht bekannt. Ich denke zum Beispiel an das Digitalisierungsbüro, das viele gute Ansätze verfolgt, aber nicht als integraler Bestandteil der Stadtentwicklung wahrgenommen wird. Das ist sehr schade. Für mich ist Bielefeld vor allem eine Stadt der Umsetzer. Da sind wir hier sehr westfälisch. Wir überlegen: Bekommen wir das auf die Straße? Und dann legen wir los! Ich bin der Ansicht, dass es klares Ziel sein muss, unsere Region zu stärken. Und wenn ich an die Stadt der Möglichkeiten denke, die Herr Knabenreich ins Spiel gebracht hat, dann trägt das Handwerk dazu bei, den avisierten Mix gut zu gestalten. Unser Campus in Bahnhofslage bestätigt das eindrücklich. Mit unseren Bildungsstätten sind wir ganz nah dran an der Stadt. Dadurch wird das Handwerk sichtbar. Mit dem Neubau des Handwerksbildungszentrums der Kreishandwerkerschaften Gütersloh und Bielefeld, das aktuell noch in Brackwede ansässig ist, am Campus Handwerk vergrößern wir uns insgesamt noch mal. Auch das Bau- und das Kfz-Handwerk rücken damit mitten in die Stadtgesellschaft. Schon heute sind in der Altstadt Optiker, Hörgeräteakustiker, Uhrmacher, Frisöre, Kosmetiker sowie ein Dachdecker und ein Bestatter ansässig. Ich würde mir wünschen, dass auch andere Handwerksberufe in Innenstadtlage sichtbar werden. So wären zum Beispiel Ausstellungen von Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnikern interessant. Wir sollten also den Gesamtblick behalten und die Puzzleteilchen zusammenführen.
BRIGITTE MEIER
Prokuristin WEGE
Die Stärken zusammenführen, das ist ein guter Ansatz. Ein alleiniges Leitbild für die Stadt ist weniger zielführend. Das war auch das Ergebnis des Markenprozesses für ein Stadtmarketing. Bielefeld ist eine gesunde Stadt, das Gesundheits- und Sozialwesen beschäftigt allein fast 34.000 Mitarbeitende, Bielefeld ist eine Wissenschaftsstadt mit den vielen Hoch- und Fachhochschulen, und Bielefeld ist ein starker Wirtschaftsstandort, der durch den guten Branchenmix auch in wirtschaftlichen Krisenzeiten gut dasteht. Diese Resilienz wird nicht zuletzt durch den starken Mittelstand und die vielen Familien- und inhabergeführten Unternehmen – sowohl in der Industrie als auch im Dienstleistungssektor – getragen. Das machen wir mit unserer Kampagne „Das kommt aus Bielefeld“ deutlich und leisten damit auch einen Beitrag zur Fachkräftesicherung. Und auch das ist besonders wichtig:
Wir organisieren kollegialen Austausch zu aktuellen Themen, die für die Unternehmen besonders wichtig sind. Dazu gehört vor allem die Frage, wie kleine und mittlere Unternehmen ihr Vorankommen hin zu einem nachhaltigeren und klimaneutralen Wirtschaften schaffen. Darum kümmern wir uns und das ist für die Profilierung der Wirtschaft und damit auch der Stadt eine tolle Chance. Insgesamt brauchen wir nicht den einen ganz großen Wurf für ein Zukunftsbild. Entscheidend ist, dass wir die Stärken und Herausforderungen, wie zum Beispiel die Verkehrs- und Energiewende, kontinuierlich voranbringen bzw. mutig bearbeiten. Ich bin optimistisch, dass das gelingt. Wir haben gute Voraussetzungen, die Potenziale, die Bielefeld zweifellos hat, zusammenzuführen und zum Leuchten zu bringen.
DOMINIK GROSS
Geschäftsführer Founders Foundation
Ich teile den Optimismus, habe jedoch den Eindruck, dass in vielen Fragen die Orientierung, oder – um ein Bild zu haben – der Kompass fehlt. Aus rein wirtschaftlicher Sicht gedacht ist Bielefeld für mich die Hauptstadt des deutschen Mittelstandes. Insgesamt stehen wir vor riesigen Herausforderungen: Energiewende, Digitalisierung, Verkehrswende, Inflation, Zinsentwicklung, Corona und nicht zuletzt der Krieg in der Ukraine. In Frankreich hat Präsident Macron es vorgemacht, mit der konsequenten Förderung von KI und Start-ups gibt er nicht nur Orientierung, sondern auch eine Richtung vor. In Stockholm ist es die Bürgermeisterin, die einen Wertewandel angestoßen hat. Das können wir auch schaffen, wenn wir über die drängenden Themen gemeinschaftlich diskutieren: Zivilgesellschaft, Politik und Wirtschaft. Gerade hat Open Innovation City den „BIE green – City Hack“ durchgeführt. Es ging darum, Nachhaltigkeitsherausforderungen, vor denen eine Stadt wie Bielefeld steht, selbst in die Hand zu nehmen und an einem Wochenende Lösungsansätze zu erarbeiten. Acht Teams sind angetreten, um ihre Stadt grüner und lebenswerter zu gestalten. Herausgekommen sind vier kreative Lösungen, von denen die Stadt nachhaltig profitieren wird. Die zu lösenden Fragestellungen kamen vom Digitalisierungsbüro der Stadt Bielefeld, Phoenix Contact, Brownfield24 und Cirquality OWL, die allesamt unterschiedliche Ansätze für eine grüne Stadt von morgen sehen. Open Data – also für alle öffentlich zugängliche Daten – können ein Schlüssel sein, Zukunft besser zu gestalten. Das hat auch der Hack als eine Lösung gezeigt. Daneben ging es u. a. um Müllvermeidung im öffentlichen Raum in Kombination mit Kreislaufwirtschaft, Erhaltung von Bienenvölkern oder ein „greenEye“, das Bodenfeuchtigkeit, CO2, Feinstaub etc. mit ausgefeilter Sensorik misst. Wenn jeder im Kleinen Lust hat, etwas zu bewegen, kann für die Gesamtheit etwas Großes daraus entstehen. Die Frage ist, wie wollen wir gestalten? In eine oder in viele Richtungen? Wir werden nie alle Menschen mit ihren Wünschen unter einen Hut bekommen. Und wer hat den Mut, den Kompass für die Stadt zu entwickeln?