Geschlechtersensible Medizin

Krankheitsverläufe sind bei Frauen und Männern unterschiedlich – so auch die Symptomatik. Während ein Herzinfarkt bei Männern meist mit einem typischen Engegefühl in der Brust einhergeht, kündigt er sich bei Frauen oft mit Rücken- und Bauchschmerzen, Schweißausbrüchen sowie Übelkeit an. Andersherum können sich Depressionen bei Männern zwar auch mit Antriebslosigkeit und/oder gedrückter Stimmung äußern, aber zum Teil kommen zusätzlich Reizbarkeit und aggressives Verhalten hinzu. Eine geschlechtersensible Medizin will Stereotype überwinden, damit Erkrankungen rechtzeitig diagnostiziert werden. Dabei geht es aber um mehr als nur um Männer und Frauen.

Die geschlechtersensible Medizin bezieht alle Geschlechter mit ein und untersucht den Menschen in seiner ganzen Diversität“, erklärt Laura Wortmann, wissenschaftliche Mitarbeiterin in der AG 10 der Medizinischen Fakultät OWL, die sich unter der Leitung von Prof. Dr. med. Sabine Oertelt-Prigione genau dieser Thematik widmet. Dabei geht es neben der biologischen auch um sozio-kulturelle Dimensionen von Geschlecht. Seit dem 1. Semester, also von Anfang an, ist geschlechtersensible Medizin fester Bestandteil des Lehrplans in Bielefeld und wird sowohl in einzelnen Fächern als auch in eigenen Veranstaltungen gelehrt.

Die Professur ist etwas Besonderes, einen Lehrstuhl gibt es in Deutschland sonst nur an der Berliner Charité, obgleich eine geschlechtersensible Medizin so wichtig ist. „Geschlecht hat einen großen Einfluss auf Gesundheit und Krankheit“, unterstreicht Laura Wortmann, die parallel zu ihrer Arbeit an der Uni Bielefeld an ihrer Dissertation in ihrer Heimatstadt Köln arbeitet. Hierfür untersucht die Ärztin die Geschlechterkompetenz von Medizin-Student*innen. „Ich habe mein Medizin-Studium absolviert, ohne viel über geschlechtersensible Medizin gehört zu haben. Als Ärztin muss ich aber wissen, dass sich beispielsweise ein Infarkt mit Bauchschmerzen äußern kann und ich ein EKG anordnen muss.“ Insgesamt geht es darum, mit einer geschlechtersensiblen Medizin schneller zur richtigen Diagnose zu kommen. Dazu müssen jedoch umfangreiche Daten gesammelt werden. Die quantitative Forschung ist daher ein Schwerpunkt der AG 10. Ein weiterer Fokus liegt darauf, wie die Berücksichtigung aller Geschlechter in Theorie und Praxis umgesetzt werden kann.

LEIDENSWEGE VERKÜRZEN

In der Forschung liegt der Fokus häufig auf dem männlichen Patienten. Frauen bekommen z. B. seltener eine adäquate Schmerzbehandlung. Bei ihnen wird häufiger als bei Männern von einer psychosomatischen Ursache ausgegangen – oder Frauen werden nicht ernst genommen. Ein Beispiel aus der Praxis: Endometriose wird häufig nicht erkannt. „Das sind gutartige, aber meist sehr schmerzhafte Wucherungen aus gebärmutterschleimhautartigem Gewebe, das außerhalb der Gebärmutterhöhle meist in benachbarten Organen und Geweben wächst“, erklärt Laura Wortmann. „Es dauert manchmal bis zu acht Jahren bis zur Diagnose, das ist ein langer Leidensweg. Deshalb ist es wichtig, Patientinnen in der Selbstwahrnehmung zu schulen, denn sie sind Expertinnen für den eigenen Körper.“ Auch die Dosierung von Medikamenten ist in der Regel auf den männlichen Körper abgestimmt – und meist unpassend für Frauen, trans-, intergeschlechtliche und nicht-binäre Menschen. Denn die Aufnahme von Medikamenten ist unterschiedlich wie auch die Verstoffwechselung und Ausscheidung, die oft über die Niere erfolgt. „Männer haben mehr Nierenkörperchen und dadurch tendenziell mehr Primärharn, eine Vorstufe des Urins. Dadurch flacht die Wirkung von Medikamenten schneller ab. Das bedeutet, dass die Dosierung meist nicht nur unpassend für Frauen ist, sondern auch für trans-, intergeschlechtliche oder nicht-binäre Menschen und für Männer, die vom Idealtypus des Standard-Patienten abweichen. Um eine Überdosierung zu vermeiden, empfiehlt es sich, den/die Arzt Ärztin oder in der Apotheke nachzufragen“, rät die 30-Jährige.

QUERSCHNITTSAUFGABE

Medizinische Leitlinien gibt es zu den meisten Erkrankungen. Sie werden systematisch entwickelt, um Ärzt*innen bei der Entscheidungsfindung zu unterstützen. Eine Berücksichtigung der Dimension Geschlecht ist hier besonders wichtig. So werden bei Männern häufig Erkrankungen wie Osteoporose, Brustkrebs und Depressionen nicht erkannt. „Das hat vielfältige Ursachen“, sagt Laura Wortmann. „Zum einen werden Anzeichen wie Reizbarkeit, aggressives Verhalten und Suchterkrankung nicht sofort mit der Diagnose Depression in Verbindung gebracht. Männer sind häufig zurückhaltender, wenn es darum geht, vermeintliche Schwächen zuzugeben oder Hilfeangebote anzunehmen. Die Suizidrate bei Männern mit Depressionen liegt drei bis vier Mal höher als bei Frauen.“ Diskriminierung – egal ob erwartete oder erfahrene – ist ein Aspekt, der in der Gesundheitsversorgung nicht hinreichend berücksichtigt wird. „Die LGBTQIA+-Community erhält eine deutlich schlechtere Versorgung“, berichtet Laura Wortmann. „Diskriminierung führt zu Stress und unter Umständen dazu, dass durch die erwartete Diskriminierung durch das Gesundheitspersonal weniger Präventionsangebote angenommen werden.“ ✔