Woran erkennt man eigentlich, dass eine Stadt boomt?
Konventionell orientierte Zeitgenossen sagen dann gern: an Kränen und Baustellen. Doch es gibt noch viel mehr Indizien.
Baustellen? Im Ernst? Davon hat Bielefeld doch immer schon reichlich gehabt. Reden wir mal von anderen Kennziffern. Vor wenigen Jahren noch prophezeiten Forscher der Region Ostwestfalen und ihrer Metropole Bielefeld im Zuge der demographischen Entwicklung einen Rückgang der Bevölkerung bzw. der Einwohner. Zumindest für Bielefeld trifft das nicht zu, im Gegenteil: Allein von Anfang 2016 bis zum Stichtag 30.06. 2019 wuchs die Einwohnerschaft der Sparrenstadt von 333.400 auf 339.600 – eine Zunahme um knapp 2 % in nur 3 Jahren. Die Gründe dafür sind vielfältig: Natürlich spielt da die Zuwanderung von 2015/2016 eine Rolle, als Bielefeld über 1.500 Geflüchtete aufnahm. Aber auch die Zunahme an Studierenden sowie eine quicklebendige Gründerszene sind Faktoren mit Relevanz, die nicht nur für quantitativen Zuwachs, sondern auch für Verjüngung stehen. Ein echter Zukunftsfaktor ist da zum Beispiel das Entstehen der medizinischen Fakultät in den nächsten Jahren. Hier wird die Stadt in den nächsten Jahren einen echten Kompetenzzuwachs erleben – sowohl, was Forschung und medizinisches Know-how angeht, als auch durch die nachfolgenden zahlreichen neuen Arbeitsplätze in diesem Bereich. Bielefeld wächst also dynamisch und hat dementsprechend Bedarf an Wohnraum – von der Politik ein wenig zu spät wahrgenommen. Doch man hat die Zeichen der Zeit erkannt. Überall entstehen Neubaugebiete, in Theesen am Fürfeld, an der Jöllheide in Jöllenbeck, in Babenhausen-Süd, in Heepen, längs der Herforder Straße und nicht zuletzt im Campusviertel im Bielefelder Westen. Der Abzug der britischen Armee aus den Kasernen eröffnet weitere Gestaltungsspielräume für Städteplaner, vorausgesetzt, sie werden sinnvoll genutzt. Von daher ist das mit den Kränen und Baustellen vom Anfang des Artikels durchaus ein treffendes Bild.
Bielefeld hat ein einzigartig vielfältiges Angebot an Schulformen, Fachhochschulen und Universität. Wenn man das kombiniert mit dem Wirtschaftsstandort OWL – übrigens dem siebtgrößten in Deutschland! –, der von mittelständischen Unternehmen geprägt ist, davon nicht wenige Weltmarktführer, die mit typisch ostwestfälischem Understatement oft als „hidden champions“ bezeichnet werden, dann ergeben sich daraus unschätzbare Vorteile. Gut ausgebildete Leute treffen auf eine reichhaltige Unternehmensstruktur und auf eine Industrieund Handelskammer, die ihren Namen verdient, weil sie Netzwerke schafft. Dazu kommt eine frische Start-Up-Mentalität, die man eher bei klassischen Metropolen wie Berlin, Köln, München und Hamburg vermuten würde. Sichtbarstes Zeichen dafür ist etwa die Founders Foundation, die sich als Initiator und Hot-Spot für die Gründerszene sehr schnell etabliert hat und Kontakte knüpft. Gerade für digital orientierte Start-ups ist sie erster Anlaufpunkt. Aber auch klassische Branchen wie Transport- und Logistikgewerbe boomen, im Osten Bielefelds bauen Amazon und DHL große Verteilerzentren, der noch brachliegende Containerbahnhof wird zu einem Zentrum der City-Logistik umgestaltet. Und wie sieht’s mit der Einkaufsattraktivität der Stadt aus? Durch die Eröffnung der „Loom“-Passage 2018 wurde ein Anziehungspunkt geschaffen, dessen Attraktivität weit in die Region hinausstrahlt. Der COMFORT City Navigator führt Bielefeld in puncto Einkaufsattraktivität in seinem Ranking immerhin auf Platz 22 unter 70 Großstädten. Auch das citynahe Gastronomie-Angebot wird vielfältiger. Selbst in vermeintlich unattraktiven Lagen wie an der Mindener Str. direkt unterm Ostwestfalendamm blühen Szene-Lokale wie „Cutie“, „Nr.z.P.“, „The Good Hood“. Oder man schaue sich nur einmal an, wie sich der Emil-Groß-Platz in Bielefeld innerhalb der letzten 10 bis 15 Jahre entwickelt hat. Ursprünglich etwas dröge Innenstadt-Randlage, heute der Hot Spot der Gastronomie.
Auch als Tagungs-, Konferenz- und Messeort verstärkt sich der gute Ruf der Leinenstadt weiter, die zahlreichen Hotel-Neubauten, z. B. am Neumarkt, sprechen da eine deutliche Sprache. Für einen Standort-Vorteil kann Bielefeld nur mittelbar etwas: die attraktive, naturnahe Lage am Südhang des Teutoburger Waldes. Von jedem Punkt der Stadt aus ist man innerhalb von höchstens 15 Minuten Fußweg im Grünen. Die Region Teutoburger Wald erfreut sich auch bei Touristen wachsender Beliebtheit, 700.000 Übernachtungen 2018 allein in Bielefeld bedeuten eine Steigerung um 13,8 %, das weitaus größte Wachstum aller NRW-Kommunen. Und bei all dem ist der eigentliche Grund für den Boom von Bielefeld noch gar nicht zur Sprache gekommen.
Peinlich vs. sexy: Der Spirit entscheidet
Das wahre Kennzeichen einer Stadt, die boomt, ist der Wandel des Bewusstseins, man spürt’s förmlich in den Fingern, ein Kribbeln, ein neuer Bielefeld-Spirit. Noch vor gut 30 Jahren klebte am Image der Stadt ein scheinbar unablösbares Peinlichkeitsetikett. Bielefeld war das Synonym für namenlose Provinz, aus der man tunlichst nicht kommen sollte, wenn man sich nicht allgemeinem Spott aussetzen wollte. Paradoxerweise leitete ausgerechnet der Internet-Hoax eines Kieler Professors den Mentalitätswandel ein. Seine Aussage, dass es Bielefeld gar nicht gebe, entwickelte sich zum wertvollsten, was es in kommunikativer Hinsicht gibt – zum Kult. Kult kann man nämlich nicht kaufen und Bielefeld entwickelte langsam aber sicher ein Kult-Image. Heute ist die Stadt verwandelt aus ihrem eigenen Schatten getreten. Aus einem neuen Selbstgefühl erwachsen Chuzpe und Charisma und so setzte Bielefeld Marketing auf die Nichtexistenz Bielefelds noch eins drauf. Man lancierte die geniale Wette, demjenigen 1 Mio. € anzubieten, der nachweisen könne, dass es Bielefeld nicht gebe. Die Aktion fand weltweit Widerhall und wurde von der New York Times bis hin zum Guardian gefeiert, ein echter Marketing-Coup, der Selbstironie mit Selbstbewusstsein paart. Kurzum: ein Zeichen innerer Souveränität. Wie sonst kommt man dazu, eine Konferenz zum Thema „Digitaler Mittelstand“ mit dem coolen Titel „Hinterland of Things“ zu versehen und europaweite Beachtung einzufahren? Auch die hiesige Kultur ist so lebendig wie lange nicht. Die neue Museumsmeile im Kunsthallenpark und eine vielseitige Theater-, Musik- und Literaturszene sind nur einige Stichworte für erfrischende Impulse, die als kultureller Standortvorteil gelten dürfen. Die Stadt ist wie zurzeit der heimatliche Fußballclub DSC Arminia: auf dem aufsteigenden Ast. Bielefeld Boomtown – das passt!