IM ALTER AUF DRAHT

Vor dem Hintergrund des Mangels an Arzt*innen und Pflegepersonal
vor allem in ländlichen Gebieten müssen in diesem Bereich dringend clevere Lösungen
her. Das im Juli 2021 gestartete EU-Projekt CAREPATH will neue Wege in der häuslichen
Versorgung erforschen. Das Klinikum Bielefeld ist der Pilotstandort in Deutschland.

Dr. Antje Steinhoff und
Dr. med. Wolfgang Schmidt-Barzynski

Mehr als 91,8 % der mental Beeinträchtigten oder an Demenz Erkrankten sind multimorbid. Das bedeutet, dass sie an einer oder mehreren Erkrankungen gleichzeitig leiden, wie z. B. Diabetes oder/ und Herzschwäche. Das führt dazu, dass viele ältere Menschen bis zu zehn oder mehr verschiedene Medikamente täglich einnehmen müssen. Eine Herausforderung für die Patientinnen, deren Angehörige und auch für die behandelnden Ärztinnen. Hier setzt das international besetzte Forscherinnen-Team CAREPATH an. „Für die klinische Studie werden multimorbide Patientinnen mit leichten geistigen Einschränkungen oder einer leichten Demenz mit einem individuellen Behandlungsplan und vielen Gerätschaften ausgestattet. Dazu gehören neben Tablet und Smartwatch unter anderem auch ein Blutdruckmessgerät, eine Waage, Bewegungsmelder oder auch ein Blutzucker messgerät“, berichtet Dr. med. Wolfgang Schmidt-Barzynski, Facharzt für Innere Medizin und Klinische Geriatrie im Klinikum Bielefeld und zugleich Leiter der klinischen Studie, die mit einer Vorstudie zur Anwendbarkeit der Technik im Sommer 2023 starten wird.

Von Oktober 2023 bis Februar 2025 werden 52 Patientinnen testen, ob sich die Versorgung mittels Telemedizin im häuslichen Umfeld verbessert. Für die Teilnahme an der Studie sind keine Vorkenntnisse in puncto Tablet erforderlich. Die Oberfläche soll intuitiv bedienbar sein. Die Patientinnen bestätigen auf dem Tablet die Einnahme ihrer Medikamente, wiegen sich jeden Morgen, messen Blutdruck, ihren Blutzuckerwert und geben an, wie viel sie getrunken haben und vieles mehr.

Ein Bewegungssensor misst die körperliche Aktivität – auch außerhalb der Wohnung. Außerdem motiviert das Programm zur Nutzung eines angepassten Übungsprogramms, denn regelmäßige Bewegung kann helfen, z. B. die Blutzuckerwerte zu verbessern. Alles Vorschläge, die die Patient*innen annehmen können, aber nicht müssen. „Uns ist bewusst, dass der Einsatz von Tablet, Smartwatch und Co. als Überwachung und Eindringen in die Privatsphäre aufgefasst werden könnte. Wir gehen sehr vorsichtig mit den erhobenen Daten um, die gemäß der EU-Datenschutzverordnung auf unseren Klinikservern bleiben und an das Forschungsteam (über EU-Server) nur in anonymisierter Form zur Auswertung weitergeleitet werden“, betont der Chefarzt des Klinikums. „Ohne Genehmigung eines umfangreichen Ethikantrages darf die klinische Studie gar nicht starten“, ergänzt Humanbiologin und Projektmanagerin Dr. Antje Steinhoff.

Aus der engmaschigen Beobachtung der Patienteninnen können sich viele Vorteile für die Versorgung ergeben. So können die Daten frühzeitig Hinweise auf die Verschlechterung des Allgemeinzustandes geben, damit die beteiligten Ärztinnen schneller reagieren können. „Nimmt ein Patient innerhalb kürzester Zeit an Gewicht zu, könnte das auf eine Wassereinlagerung im Körper und damit auf eine Herzproblematik hinweisen“, nennt Dr. Wolfgang Schmidt-Barzynski ein Beispiel. „Oder wenn die Bewegungssensoren nächtliche Wanderungsbewegungen melden, kann das ein Hinweis auf eine Verschlimmerung der Demenz sein“, so Dr. Antje Steinhoff.

Neben dem Einsatz von digitalen Tools hat das internationale Team, an dem rund 35 Forscherinnen beteiligt sind, eine Gesamtleitlinie für die zehn häufigsten Grunderkrankungen erarbeitet. Denn jede medizinische Fachgesellschaft hat eigene Leitlinien formuliert. Das sind Entscheidungshilfen – sogenannte „Wenn …, dann …-Regeln“ –, wie Ärztinnen bei einer Herzinsuffizienz oder Diabetes vorgehen können. 250 Leitlinien im Rahmen der 10 Grunderkrankungen wurden nun in einer Gesamtleitlinie aufeinander abgestimmt und computerlesbar gemacht – eine Herkulesaufgabe. Und ein wichtiger Schritt, um multimorbide Patient*innen besser versorgen zu können. Außerdem wurde ein Werkzeug zur Entscheidungsunterstützung bei Mehrfachmedikation integriert, damit bei der Einnahme verschiedenster Medikamente unerwünschte Neben- und Wechselwirkungen ausgeschlossen werden können.

Abgesehen vom Bielefelder Standort in Deutschland finden klinische Studien auch in Spanien, Großbritannien und Rumänien an jeweils einem Pilotstandort statt. Es soll untersucht werden, wie CAREPATH in unterschiedlichen Gesundheitssystemen funktioniert. In Bielefeld laufen die Fäden bei Dr. med. Wolfgang Schmidt-Barzynski zusammen. „Die Zusammenarbeit mit Medizinern und Computerfachleuten der zehn Projektpartner auf internationaler Ebene ist ungemein bereichernd“, da sind sich der Klinische Leiter und die Projektmanagerin einig. „Und wenn CAREPATH funktioniert, haben wir ein sicheres und geprüftes Medizinprodukt, das die Versorgung im häuslichen Umfeld verbessert, Angehörige entlastet und auch die Zusammenarbeit von Kliniken, Haus-, Fachärzten und Pflegepersonal im Sinne der abgestimmten Versorgung der Patient*innen vereinfacht.“ ✔

Weitere Infos zum EU-Projekt www.carepath.care/