„DER BREXIT IST EIN HISTORISCHER IRRTUM“

Über die Auswirkungen des Brexit auf die Wirtschaft in Bielefeld inmitten der Corona-Pandemie haben wir mit Harald Grefe, stellvertretender Hauptgeschäftsführer der IHK Ostwestfalen zu Bielefeld und zuständig für die Bereiche International, Handel und Verkehr, gesprochen.

Herr Grefe, wie geht es unserer Wirtschaft?

Seit Beginn der Pandemie haben wir je nach Branche die gesamte Bandbreite an Gefühlslagen gehabt. Im ersten Lockdown ist die Wirtschaft durch die Schließungen stark eingebrochen. Trotz aktuell vorsichtiger Lockerungen bewegen sich viele Branchen, besonders der Einzelhandel, die Gastronomie, aber auch die Industrie, die am Konsumgüterbereich hängt, am Limit. Es fehlt an Liquidität und die Existenzangst ist mittlerweile sehr deutlich spürbar. Andere Branchen sind bislang gut durch die Krise gekommen.

Und jetzt kommt der Brexit noch on top …

Das ist richtig. Der Brexit triff t auf eine eher depressive Stimmung. Es ist schon mal positiv, dass vor Weihnachten 2020 überhaupt eine Einigung erzielt wurde. Das Worst-Case-Szenario war ja der sogenannte „No-Deal-Brexit“. Die Unternehmen hatten seit dem Referendum 2016 Zeit, sich vorzubereiten. Zölle konnten zwar vermieden werden, aber unsere Unternehmen sind hautnah betroff en, weil nun Zollanmeldungen und Ursprungsnachweise erforderlich sind und sich auch steuerlich einiges ändert. Bei Exporten wird seit dem Jahreswechsel jeweils die Umsatzsteuer jenseits des Ärmelkanals fällig, die in Großbritannien aktuell 20 Prozent beträgt. Im Moment gilt noch eine Übergangsfrist bis Herbst 2021, aber man merkt, dass es gewaltig ruckelt.

Inwiefern?

Unternehmen berichten uns, dass sie Schwierigkeiten haben, ihre Waren auf die Insel zu bringen. Das ist übrigens auch umgekehrt der Fall. Im Moment ist das alles noch nicht so dramatisch, weil sich die Unternehmen bereits im Vorfeld auf Schwierigkeiten eingestellt und vor dem Jahreswechsel noch ihre Lager aufgefüllt hatten. Viele Firmen aus OWL betreiben ja bereits Handel mit Drittländern und haben deshalb schon Erfahrung mit den Zollformalitäten. Allerdings kostet das nun mehr Zeit und damit auch mehr Geld. Außerdem sind die britischen Zollbehörden nicht gut vorbereitet. Ihre IT funktioniert nicht gut genug, um die Menge an aktuell notwendigen Formularen zeitlich angemessen zu kontrollieren. In Dover werden die Warteschlangen sicherlich nach Ablauf der Übergangsfrist länger. Im Moment, weil die Lager gefüllt sind, haben es die Zollbehörden mit 2.000 bis 3.000 Lkw am Tag zu tun, normalerweise sind es eher 10.000.

450 Unternehmen in OWL unterhalten regelmäßig Import-/Export-Beziehung mit dem UK.

Ist durch das getroffene Brexit-Abkommen denn schon alles geregelt?

Nein, es fehlen noch so einige Bereiche. Insbesondere, was das Thema Datenschutz anbelangt oder auch, wie mit dem Sektor Finanzdienstleistungen umgegangen werden soll. In Bezug auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit – zum Beispiel für Profi-Sportler oder Künstler – sind auch noch nicht alle Fragen beantwortet.

Muss sich Jürgen Klopp als Chef-Coach vom FC Liverpool Gedanken wegen des Brexits machen?

Nein, das muss er nicht (lacht). Wer schon seit fünf Jahren auf der Insel arbeitet, darf in der Regel bleiben. Außerdem haben sich die Briten für ausländische Arbeitnehmer ein Punktesystem zur Erlangung einer Arbeitserlaubnis einfallen lassen, das auch das Gehalt berücksichtigt. Da kann Herr Klopp wohl beruhigt sein. Anders sieht das in den Bereichen aus, in denen kaum noch britische Arbeitnehmer beschäftigt sind, beispielsweise in der Gastronomie, im Handwerk, in der Baubranche oder in der Landwirtschaft.

Werden die wirtschaftlichen Beziehungen weiter abkühlen?

Aus deutscher Perspektive kann man dem Brexit nichts Positives abgewinnen. Großbritannien war vor einigen Jahren noch der drittwichtigste Handelspartner Deutschlands und wurde nun durchgereicht auf Platz 8. Seit 2016 schrumpfen die Exporte, allein 2020 um 15,5 Prozent auf rund 67 Milliarden Euro. Ein Jahr zuvor waren es noch 78,7 Milliarden gewesen. Möglicherweise werden künftig auch Standortentscheidungen von Unternehmern anders getroff en. Es steht zu befürchten, dass die Briten auf lange Sicht einen hohen Preis für den Brexit bezahlen werden müssen. Sehr bedauerlich ist auch, dass Großbritannien aus dem Erasmus-Programm ausgestiegen ist. Studierende brauchen nun bei längeren Aufenthalten ein Visum, erhalten unter Umständen keine Arbeitsgenehmigung und müssen Studiengebühren in voller Höhe bezahlen. Das ist sehr schade für den kulturellen Austausch und könnte dazu beitragen, dass wir uns zunehmend von unseren britischen Nachbarn entfremden, mit denen wir über Jahrhunderte eng verbunden waren. Ich bleibe bei dem Fazit, dass der Brexit ein historischer Irrtum ist.

60 Unternehmen in OWL betreiben eigene Niederlassungen oder Produktionsstandorten im UK.

Gibt denn der Machtwechsel im Weißen Haus Anlass zur Hoffnung?

Atmosphärisch wird sich sicherlich eine Menge mit dem Amtsantritt von Joe Biden ändern. Sehr positiv ist, dass sich der neue Präsident zu vielen internationalen Vereinbarungen, wie etwa dem Pariser Klimaschutzabkommen, bekannt hat und auch die Verhandlungen mit dem Iran wieder aufnehmen will. Allerdings ist der Handelskonflikt mit China nicht vom Tisch und wir hoffen, dass dieser nicht auf dem Rücken der Europäer ausgetragen wird.

Wie wichtig sind die USA als Handelspartner?

Die USA waren auch 2020 – trotz Trump – Deutschlands wichtigster Exportmarkt. Allerdings ist auch das Geschäft mit China stark gewachsen. Biden könnte fordern, dass Europa sich entscheiden muss. Die Entwicklung, die Trump angestoßen hat, wird er nicht vollständig zurückdrehen wollen. Es wird keine 180-Grad-Wende geben. Für die Wirtschaft bleibt zu hoffen, dass man sich auf einheitliche Standards hinsichtlich technischer Ausstattungen einigt. Gerade für kleinere Unternehmen oder für Mittelständler wird es schwierig, wenn jedes Land eigene Standards durchsetzt. Das verkompliziert die Fertigungsprozesse, wenn beispielsweise ein Maschinenbauer für jedes Land anders produzieren und die dafür erforderlichen Genehmigungen einholen muss. Der US-Markt ist anspruchsvoll. Die Amerikaner sind sehr serviceorientiert. Um im Beispiel zu bleiben: Die Maschine muss laufen und größtenteils selbsterklärend sein oder ferngesteuert gewartet werden können, weil in den USA häufig mit angelernten Kräften gearbeitet wird, die nicht – anders als bei uns – dual ausgebildet sind.

Im Verhältnis zur USA hat Trump oft das Ungleichgewicht der Handelsbilanz zwischen den Staaten und Deutschland bemängelt. Zu Recht?

Trump hat immer kritisiert, dass deutsche Autos in den USA so beliebt sind, aber in Berlin keine Chevrolets auf den Straßen fahren. Manchmal wird die Technikversessenheit der Deutschen als „German Overengineering“ bezeichnet. Aber das ist es, was uns auszeichnet. Produkte „Made in Germany“ haben nach wie vor einen hohen Stellenwert. Aber wenn wir bei der Handelsbilanz mit den USA Dienstleistungen, wie sie aus dem Silicon Valley oder aus Hollywood kommen, berücksichtigen, ist die Bilanz ganz sicher nicht im Ungleichgewicht.