Jetzt mal ernsthaft: Erinnert sich noch jemand an die eigenen guten Vorsätze zu Beginn des Jahres 2020? Den üblichen Klimbim aus abnehmen, mehr Sport treiben, bewusster ernähren, mal wieder ein gutes Buch lesen – die gesammelten Nichtigkeiten des eigenen Lifestyles? Das Virus, damals noch ein weit entferntes Phänomen in Ostasien, fegte derlei Alltags-Nippes schon wenig später rasch beiseite und schuf innerhalb eines Jahres ein neues Wertesystem. Ja, man lernte, wieder das ganz neu wertzuschätzen, was einem lange Zeit wie selbstverständlich vorgekommen war.
Die Demokratie zum Beispiel. Die Corona-Schutzmaßnahmen, die mit der Einschränkung von Grundrechten wie etwa Versammlungs- und Bewegungsfreiheit einhergehen, lassen wie unter einem Brennglas gebündelt erst den Wert aufblitzen, den diese scheinbar selbstverständlichen Errungenschaften haben, wenn man sie für eine Zeitlang nicht mehr hat. Die Meinungsfreiheit gehört unbedingt dazu, auch wenn man angesichts der Corona-Querdenker manchmal denken mag, dieses hohe Gut sei an die Falschen verschwendet. Wenn man sich anschaut, wie autoritäre Regime selbst in Europa die Demokratie unterminieren durch Aushöhlung der Justiz und Verengung des Meinungskorridors, wird einem bewusst, wie gefährdet Demokratie eigentlich ist. Auch vermeintlich hoher moralischer Anspruch kann demokratiegefährdend sein. Mich beschleicht bisweilen der Verdacht, die Corona-Krise ist nur der Lackmus-Test für das nächste große Ding– den Klimawandel, dessen Folgen vermutlich auch Einschränkungen bei den Grundrechten nach sich ziehen werden. Dann kommt ein unheiliger Automatismus in Gang: Je nach Größe des Anliegens oder Ziels verkommen die hart erkämpften Grundrechte zur disponiblen Masse, sie können beliebig eingeschränkt oder wieder gewährt werden. Die Corona-Pandemie hat unser Bewusstsein aber auch in anderer Hinsicht geschärft: für die Wertschätzung der einfachen Dinge. Der tödlich an Lungenkrebs erkrankte US-Musiker Warren Zevon sagte einst wenige Monate vor seinem Tod in der Letterman-Show auf die Frage, was ihm in dieser zu Ende gehenden Lebensspanne viel bedeute oder noch wichtig sei: „Auf der Terrasse zu sitzen und ein Sandwich zu essen.“ Es sind die simplen Bedürfnisse, die Sehnsucht nach Normalität. Nach dem Stadtbummel einen Kaffee trinken gehen oder sonntags in den Tierpark. Sich spontan im Kino einen Film anschauen, ein Konzert besuchen, eine Ausstellung oder Lesung. Sich mit Freunden oder Familie ohne Einschränkung verabreden. Irgendwo einkehren. Ältere Angehörige besuchen. Jemand Nahes berühren, herzen, umarmen, küssen. Ja, stoßen wir darauf an im Jahr 2021: auf die neue Wertschätzung der scheinbaren Selbstverständlichkeiten.