JEDER TANZT FÜR SICH ALLEIN
„Wir wollen eine Explosion der Körperlichkeit erzeugen. Wie bei einem Rave sollen alle Gefühle, die sich in den letzten Monaten aufgestaut haben, rausgelassen werden“, sagt Simone Sandroni. In seiner ersten Kreation der Spielzeit 2020/21 versucht der Chefchoreograph das diffuse Knäuel von Emotionen, das wir seit Beginn der sozialen Distanzierung mit uns umhertragen, zu entwirren.
Während er für sein Tanzensemble die Abstandsregeln zuallererst als künstlerische Herausforderung begreift, frustrieren sie ihn auf persönlicher Ebene. An Klischees ist manchmal eben doch etwas dran. „Ja, Italiener berühren sich gerne, wenn sie miteinander reden“, lacht Simone Sandroni. „Aber auch Deutsche haben eine starke Körpersprache. Wenden sich im Gespräch einander zu oder gestikulieren. Überhaupt funktionieren 70 Prozent unserer Kommunikation über den Körper.“ Spontane Umarmungen, kleine Gesten der Nähe fehlen ihm. „Das kreiert eine Distanz, die sich langfristig auch auf die Seele auswirkt“, ist der Wahl-Bielefelder überzeugt. „Der Abstand zu den Mitmenschen drückt eine Skepsis aus, einen unterschwelligen Verdacht, dass wir selbst oder die andere Person infiziert sein könnten.“
Beruflich blickt der Chefchoreograph mit anderen Augen auf die Auswirkungen der Abstandsregeln. „Natürlich sind wir nicht glücklich darüber, aber die neue Situation zwingt uns anders zu arbeiten und das gibt uns einen kreativen Impuls“, erklärt Simone Sandroni. Dramaturgin Janett Metzger ergänzt: „Beim Tanzen, exzessiven Sprechen und Singen gelten Abstandsregeln von sechs Metern. Das ist eine ganz besondere Situation. Wir können nie alle zehn TänzerInnen gleichzeitig auf der Bühne haben und sie dürfen sich nicht anfassen. Kein Choreograph arbeitet freiwillig so. Aber der Rahmen, der gesetzt ist, führt dazu, neue tänzerische Möglichkeiten auszutesten.“ Auch inhaltlich setzt sich „Im Rausch“ mit den Auswirkungen der Corona-Pandemie auseinander.
In der kollektiven Isolation haben sich unsere sozialen Kontakte noch stärker in den virtuellen Raum verlagert. Wenn Blicke zwischen den Bildschirmen ins Leere laufen, Emojis die echten Gefühle ersetzen und Berührungen unmöglich sind, riskieren wir, uns nicht nur von unseren Mitmenschen, sondern zunehmend auch von uns selbst zu entfernen. „Wenn wir vor dem Computer sitzen, bekommen wir zwar viele Impulse, aber es folgt keine physische Reaktion“, so Simone Sandroni. All diese aufgestaute Energie fließt auf der Bühne in eine ekstatische Choreographie, die die tanzenden Körper zu einem gemeinschaftlichen Befreiungsschlag gegen noch immer geltende Limitationen erhebt. „Das ist wie ein Statement gegen die Situation, in der wir momentan leben. Wir möchten dem Körper seine ursprüngliche Rolle zurückgeben und rücken ihn in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.“ Anders ausgedrückt: Für das Tanzensemble dürfte es verdammt anstrengend werden. „Nachdem wir unsere ursprünglichen Pläne für den Beginn der Spielzeit über den Haufen werfen mussten, wollten wir etwas machen, wo die TänzerInnen alles rauslassen können, was sich angestaut hat. Wo sie danach richtig erschöpft sind, was ja ein befreiendes Gefühl sein kann“, unterstreicht Janett Metzger.
„Die Choreographie knüpft an das Gefühl vieler junger Menschen an, denen das Gemeinschaftsgefühl fehlt. Die Möglichkeit, sich zusammen zu vergessen.“ Sich verbunden fühlen, gemeinsam das Leben feiern, ist dabei keinesfalls eine Erfindung der Clubszene. „Schon wenn sich früher Menschen um das Feuer versammelt haben, ging es um das Bedürfnis, zusammen zu schwitzen, einen gemeinsamen Rhythmus zu finden“, so der Choreograph. Diesen Rhythmus gibt auf der Bühne die treibende Komposition des Drummers Marc Lohr vor, der in den letzten Jahren viel im Tanzbereich gearbeitet hat. „Seiner Musik hört man nicht einfach zu“, sagt Simone Sandroni. „Sie ist stark und laut und hat einen Drive, der einen sofort packt. Wie ein Herzschlag begleitet sie uns von der ersten Minute an.“ Der Chefchoreograph verspricht: „Es wird sein wie bei einem gutem Rave: Danach fühlst du nichts mehr außer diese grenzenlose Liebe, die sich wie ein roter Faden durch unser ganzes Leben zieht.“
Premiere: 24.10., 19:30 Uhr, Stadttheater