Vielfalt bereichert

„Inklusion von Anfang an. Los geht‘s. Mit Dir!“ Unter diesem Motto findet am 5. Mai ein bundesweiter Aktionstag der „Aktion Mensch“ statt. Wir wollten wissen, wie es um die inklusive Gesellschaft in Bielefeld steht. Entdeckt haben wir besondere Beispiele, wie Vielfalt funktionieren kann.

Foto: Theaterwerkstatt Bethel

Das Volxtheater der Theaterwerkstatt Bethel

OFFEN FÜR ALLE

„Alles_Offen“ – mit einem kleinen Twist wird aus dem Jahresmotto eine gute Beschreibung der grundsätzlichen Haltung der Theaterwerkstatt Bethel. Seit ihrer Gründung ist sie offen für alle. „Die Theaterwerkstatt ist 1983 bereits inklusiv und divers gestartet, ohne dass es explizit Konzept war. Es gab einen Aufruf mitzumachen und es kam, wer wollte. Das war faszinierend“, erinnert sich Matthias Gräßlin.

Matthias Gräßlin

Der Theatermacher und Dozent für kulturelle Bildung war von Anfang an dabei. 1994 hat er dann die Theaterleitung von Else Natalie Warns übernommen und eine besondere künstlerische Praxis initiiert: das Volxtheater. Ein Theater aus der Bevölkerung und für die Bevölkerung. „Zum Glück sind wir nie ein ‚Behindertentheater‘ geworden“, unterstreicht der Bielefelder. „Dieses Zielgruppendenken möchten wir ja gerade auflösen. Denn wer von Behinderten und Nichtbehinderten spricht, bedient eigentlich schon die Spaltung, die Zuweisung in Nischen. Volxtheater steht für eine Kultur der Vielfalt mit dem Ziel, sich im Blick zu behalten und voneinander zu profitieren, egal wie unterschiedlich wir sind. Jeder findet hier seinen Platz und wirkt.“

Für Matthias Gräßlin ist das eine grundsätzliche Haltung, die sich im Begriff der Volxkultur niederschlägt. „Mit dem Volxtheater und der Volxakademie möchten wir dafür sorgen, dass gesellschaftliche Gruppen, die sich aus dem Blick verloren haben, zusammenfinden, sich begegnen, voneinander lernen und konstruktiv zu streiten. Ich komme nur voran, wenn ich mich mit Fremdem auseinandersetzen kann, alles andere bleibt in der Komfortzone der eigenen Filterblase. Eine heterogene Gruppe hat jedoch viel größeres Potenzial als eine homogene. Unsere Gesellschaft braucht das dringend. Diese Einsicht ist jedoch noch nicht genug verbreitet.“

Das Potenzial, das in der Vielfalt steckt, gilt es für den Theaterleiter in allen gesellschaftlichen Bereichen zu nutzen. Ein gutes Beispiel dafür, was das ganz konkret bedeuten kann, ist etwa die Stadt- oder Verkehrsplanung. Sitzen hier nur Autofahrer an einem Tisch, gibt es überspitzt gesagt nur Straßen, aber keinen Raum für Fußgänger, Rad- oder Rollstuhlfahrer. Und statt Platz zum Spielen eher Parkplätze.

Warum diese offene Gesellschaft beim Theaterspielen bereits so gut funktioniert, hat für Matthias Gräßlin verschiedene Gründe. Einer ist, dass im Volxtheater kein bestimmtes Stück geprobt wird wie bei einer klassischen Theaterproduktion. „Bei uns versammeln sich Interessierte zu einem Thema und nehmen dann ihre eigene Spur auf. Dass wir am Ende bei einer Aufführung landen, die aussieht, als hätte sie ein vorgegebenes Konzept gehabt, ist eine besonders schöne Volte der Kunst“, lacht der Regisseur. Im engeren Sinne funktioniert es, weil das Volxtheater auf die Mittel des zeitgenössischen Theaters setzt. Einen postdramatischen Ansatz verfolgt, bei dem alle Beteiligten an der Idee und Umsetzung mitwirken.“

„Inklusion ist nichts, was generell am Theater gut geht“, resümiert Matthias Gräßlin. „Es geht speziell im Volxtheater gut, weil sie unsere Haltung gegenüber Gemeinschaft und Diversität entscheidend begünstigt. Die Idee des Volxtheaters ist das Angebot, Gemeinschaft vom Schöpferischen her zu denken, dafür ein Bewusstsein in der Gesellschaft zu schaffen, dass jeder künstlerisch wirkt. Wer diese Erfahrung hier macht, entwickelt ein Gefühl für die eigene Verantwortung und Wirksamkeit. Und wer das hier erlebt hat, trägt es auch in andere Bereiche der Stadtgesellschaft.“

DIE NÄCHSTEN PREMIEREN DER THEATERWERKSTATT BETHEL:

  • VolxperformanceKollektiv: „Die Furisten GmbH“, 5. Mai, 12 Uhr, Bahnhofstraße in Bielefeld, zwischen Arndtstr./Stresemannstr. und Jahnplatz
  • Volxtheater-Ensemble: „Alles_Offen – Visionen von Rettung und Untergang“, 22., 23., 26. und 27. Mai, 19:30 Uhr im alten Speisesaal von Gilead IV, Remterweg 69-71, Eingang E
  • Jugendvolxtheater: „Den Mund voll ungesagter Worte“ 17., 18. und 19. Juni., 19.00 Uhr, Theaterwerkstatt Bethel

Aufgrund des Coronavirus können wir wir nicht garantieren, dass Veranstaltungen stattfinden und bitten darum sich auf direkten Websites zu informieren.

MENSCH SEIN

Regisseur Oliver Stritzke

405 Tage. 23 Nationen. 19 Sprachen. 6 Kontinente. Eine Weltreise. Eine, die die Lebensbedingungen von Menschen mit Behinderung in den verschiedenen Regionen der Welt in den Fokus nimmt. Mit ihrem Film „Menschsein“ erzählen der Pädagoge und Filmemacher Dennis Klein und der Bielefelder Regisseur Oliver Stritzke von besonderen Begegnungen. Und stoßen die Frage an, wie wir Barrieren abbauen und eine gleichberechtigte Teilhabe für alle ermöglichen können. Ein Film, der bewegt.

Shruti und Sonali, Indien

Auf Dennis Klein, der die Idee für „Menschsein“ lieferte, stieß Oliver Stritzke durch Zufall. „Ich saß am 6. Dezember 2013 vorm Rechner, las im Internet seine Anzeige und dachte ‚schreib ihn mal an‘.“ Dann ging alles ganz schnell. „Zwanzig Minuten später haben wir miteinander telefoniert.“ Und schon einige Tage später schickte ihm Dennis Klein, der gerade mit Videokamera und Stativ um die Welt reiste, Filmmaterial. Ein 20-minütiger YouTube-Beitrag sollte es werden. „Einer, in dem möglichst viele Menschen mit Behinderungen zu Wort kommen sollten“, so Oliver Stritzke, den das Thema sofort berührte. „Ich habe mit 11 Jahren in New York gelebt und einen Freund mit Behinderung gehabt und auch heute ist es für mich selbstverständlich Freunde mit Beeinträchtigungen zu haben.“ Der Regisseur und Cutter, der am Bielefelder Oberstufenkolleg sein Abi machte und im polnischen Lodz Spiel- und Dokumentarfilm studierte, sollte als Profi das Material für die Reportage schneiden. Er sichtete über Nacht das Rohmaterial. Es begeisterte ihn. „Es war einzigartig. Ich habe sofort gespürt, dass ich einen ‚Schatz‘ in den Händen halte. Das Material war echt. Frei von Denkschablonen professionellen Filmemachens“, erinnert sich der 42-Jährige.

MENSCHSEIN

Am 3. Dezember letzten Jahres lief der Dokumentarfilm „Menschsein“ bundesweit in über 100 Kinos. Am 5.5.2020 findet ein bundesweiter Aktionstag statt, in dessen Rahmen der Film „Menschsein“ in diversen Kinos zu sehen sein wird.
www.menschsein-film.de

Dennis Klein

Und viel zu schade, um daraus lediglich einen YouTube-Beitrag zu produzieren. Ungeachtet der Tatsache, dass das Material an sich schlecht und der Ton grauenvoll war. Der Bielefelder übernahm die Regie, schuf die Strukturen und Voraussetzungen, um einen kinoreifen Film produzieren zu können. „Wir haben fast täglich miteinander geskypt. Auf diese Weise bin ich quasi mit Dennis zusammen gereist“, stellt Oliver Stritzke fest. Die Begegnungen rund um die Welt haben auch ihn tief berührt. Acht Monate und rund 4.000 Mails später trafen sich Oliver Stritzke und Dennis Klein das erste Mal persönlich. „Wir sind beste Freunde geworden, haben viel voneinander gelernt während wir dieses Projekt realisierten“, betont Oliver Stritzke, der drei Wochen durchgängiges Filmmaterial auf 90-Minuten zusammengeschnitten hat. Und dem „Wer sind wir füreinander“ mit Menschen wie dem gehörlosen Jhon-Mario aus Kolumbien; Manuel, Dos Sopheaup oder Shruti und Sonali aus Indien nachspürt. „Nach sechs Jahren haben wir unser Baby endlich zur Welt gebracht“, freut sich Oliver Stritzke, der sich als Schüler auf La Gomera während eines Filmkurses mit dem Oberstufenkolleg ins Filme machen verliebte und wusste: „Das will ich machen.“ Und so entstand im Winter 1997 sein erstes „Filmchen“ über Bielefelder Stadtansichten mit Fokus auf das Kachelhaus. „Menschsein“ ist jetzt sein erster Kinofilm. „Und einfach ein Herzensprojekt“, wie er feststellt.

Oliver Stritzke

BARRIEREFREI DENKEN

Laborschule Bielefeld

„Inklusion ist eine Gemeinschaftsaufgabe für unsere gesamte Gesellschaft“, da sind sich Dr. Sabine Geist, didaktische Leiterin, und Rainer Devantié, der seit 2014 die Laborschule Bielefeld leitet, einig. Wie das auch in Schule aussehen kann, macht die Laborschule täglich vor. Als Versuchsschule des Landes NRW 1974 gegründet, arbeitet sie von Anfang an mit einem inklusiven Konzept.

Rainer Devantié und Dr. Sabine Geist

„Jeder Fall ist anders“, wie Rainer Devantié feststellt. Das Dauerargument „das haben wir noch nicht gehabt, das können wir nicht leisten“ lässt er allerdings nicht gelten. Stattdessen setzt die Schule auf eine pragmatische Herangehensweise und ein multiprofessionelles Team. „Wir schauen zu allererst darauf, was wir tun müssen, um inklusive Schülerinnen und Schüler beschulen zu können.“ So brauchte es im Fall einer blinden Schülerin neben der Expertise auf Seiten des Kollegiums in Sachen Ausstattung beispielsweise eine Schreibmaschine für Brailleschrift. „Und bei den Schülerinnen und Schülern bis hin zum pädagogischen Team ein Gruppenklima, das offen ist, jemanden aufzunehmen“, betont Dr. Sabine Geist.

Kinder mit Förderbedarf sind in jeder Gruppe der Laborschule eine Selbstverständlichkeit. Denn in jeder Gruppe soll sich die gesamte Vielfalt widerspiegeln. „Das gehört für uns zur Alltagskultur“, sagt Rainer Devantié. Und so ist es für den Schulleiter selbstverständlich, dass natürlich auch ein Kind mit Downsyndrom auf Klassenfahrt geht. Zusammen mit seinem Schulbegleiter. „Die Verantwortlichkeit liegt bei uns allen gemeinsam, das gilt auch für die Schulbegleiter, die bei uns Teil des Kollegiums sind“, betont Rainer Devantié. Das wirkt sich nicht nur in der Alltagskommunikation positiv für das Kind aus. Auch das gesamte Schulteam profitiert von dieser Regelung.

Etwa 10 Prozent der Kinder an der Laborschule haben einen sogenannten „sonderpädagogischen Förderbedarf“. Bei der Mehrzahl der Kinder im Bereich Inklusion liegen allerdings auch an der Laborschule die Förderschwerpunkte nicht im Bereich körperlicher oder geistiger Einschränkungen, sondern im Bereich emotional-soziale Entwicklung, Sprache und auditive Wahrnehmung. Die Schule schreibt für diese Kinder und Jugendlichen anonyme Portraits, die Grundlage für die Zuweisung von entsprechend ausgebildetem Personal sind. Sie muss also kein offizielles „Sonderschulaufnahmeverfahren“ durchführen. „Wir verzichten damit auf jegliche Form von Stigmatisierung“, so Dr. Sabine Geist. Waren es früher zwei Sonderpädagogen, sind es heute acht, verteilt auf 5,8 sonderpädagogische Stellen, die der Laborschule vom Land zur Verfügung gestellt werden. Sie wird – wie alle anderen Schulen – nach dem gleichen Verteilungsschlüssel behandelt.

„Vielfalt bereichert,auch wenn es sich nach einer Platitüde anhört.“

Dr. Sabine Geist

Die Strukturen im eigenen Haus zu verändern, ist für die Laborschule ein wesentlicher Schlüssel, um Inklusion in Schule erfolgreich zu leben. Und so ist der Inklusionskoordinator Teil der Schulleitung. „Das war absolut notwendig. Wir haben ihn aus unserem Sonderpädagogen-Pool rekrutiert und benannt, um die Fäden zur Schulleitung zu knüpfen und kurze Kommunikationswege zu haben“, sagt Rainer Devantié. Auch das muss man wollen. „Wir brauchen keine Exklusion in der Inklusion“, unterstreicht Sabine Geist. Und so fühlen sich in der Laborschule Lehrer und Sonderpädagogen für alle Kinde in ihrer Gruppe verantwortlich. „Und auch die Kinder akzeptieren die große Heterogenität und damit beispielsweise auch die in einer Gruppe unterschiedlichen Aufgabenstellungen“, macht die didaktische Leiterin der Laborschule deutlich. Die Voraussetzung dafür liefert das offene Raum- und Lehrkonzept der Laborschule, das sich u.a. in dem variabel gestalteten Unterricht spiegelt, der ohne Noten auskommt. „Vielfalt bereichert, auch wenn es sich nach einer Platitüde anhört“, betont Sabine Geist, für die Barrierefreiheit nicht zuletzt Partizipation und Teilhabe bedeutet. „Dafür muss man im Gespräch bleiben“, weiß Rainer Devantié mit Blick in alle Richtungen. Dazu gehört der Austausch auf Augenhöhe mit Sonderpädagogen und Lehrkräften, die nicht allein gelassen werden dürfen und den Eltern, die ebenfalls ins Boot geholt werden müssen. An der Laborschule wird die Expertise jedes Einzelnen geschätzt. Denn nicht technische und bauliche Barrierefreiheit lassen Inklusion gelingen, sondern Offenheit und Barrierefreiheit in den Köpfen aller Beteiligten. Wie erfolgreich das Konzept Laborschule ist, zeigt nicht nur das überregionale Interesse an der Versuchsschule. „Wir sind extrem erfolgreich in der individuellen Entwicklung von Kindern. Nur ganz wenige sind mit einem Förderschulabschluss abgegangen“, so Rainer Devantié.

Mädchenhaus Bielefeld

Mädchen sicher inklusiv

Mädchen und Frauen mit Behinderung tragen ein besonders hohes Risiko, Opfer von Gewalt zu werden. „Es wird davon ausgegangen, dass sie zwei- bis dreimal häufiger sexualisierte Gewalt erleben als der weibliche Bevölkerungsdurchschnitt“, sagt Maya Goltermann vom Mädchenhaus Bielefeld e.V, das bundesweit die erste und einzige inklusive Zufluchtsstätte unterhält.

Wichtige Aspekte, um gewaltbegünstigenden Faktoren zu begegnen sind u.a. die Förderung von Partizipation und Selbstbestimmung, die Aufklärung und Enttabuisierung von Sexualität, aber auch die Sensibilisierung für das Thema Gewalt im Kontext Behinderung. „Hinzu kommt, dass sowohl die Suche als auch die Inanspruchnahme von Hilfe- und Unterstützungsangeboten aufgrund vielfältiger Barrieren erheblich erschwert ist“, so die Dipl. Pädagogin. Die „Fachstelle zur Gewaltprävention und Gewaltschutz für Mädchen und junge Frauen mit Behinderung/chronischer Erkrankung – Mädchen sicher inklusiv“ richtet sich speziell an Mädchen und junge Frauen ab 12 Jahren mit verschiedenen Behinderungsformen, wie körperlicher, sogenannter geistiger, psychischer, Lern-, Sprach-, Seh- oder Hörbehinderung sowie Verhaltensauffälligkeiten – aber auch an Angehörige, Fachpersonen sowie andere Interessierte aus ganz NRW. „Unser Ziel ist es den Gewaltschutz für Mädchen und junge Frauen mit Behinderung zu verbessern“, sagt die Leiterin der Fachstelle.

ww.mädchensicherinklusiv-nrw.de

UND AUßERDEM…

Der DSC hat es sich zur Aufgabe gemacht, Menschen mit Behinderungen während ihres gesamten Stadionbesuchs zu unterstützen. Ehrenamtliche Helfer kümmern sich um die Bedürfnisse der Fußballfans mit Handicap. Mittlerweile bietet Arminia Bielefeld rund 400 Plätze für Menschen mit unterschiedlichsten Behinderungen an – ganz egal, ob Seh-, Geh- oder geistige Behinderung. Jeder findet in der SchücoArena seinen Platz.

Um auch sehbehinderten und blinden Zuschauern ein größtmögliches Fußball- und Stadionerlebnis zu bieten, kommentieren seit 14 Jahren (2005) an jedem Spieltag der “Blauen” zwei qualifizierte Sehbehindertenreporter die kompletten 90 Minuten der Spiele.