Die Lust am Lesen

„Ich bin ein Lesejunkie, egal ob Zeitungen oder Bücher. Und ich brauche das Haptische des Papiers“, stellt Dagmar Nowitzki mit einem Schmunzeln fest. Ihr Faible: Romane. Auf gut 30 bringt sie es im Jahr. Kein Wunder also, dass sich die Bielefelderin für die Literarische Gesellschaft Ostwestfalen-Lippe Literaturhaus Bielefeld e.V. stark macht. Seit 2012 als Vorsitzende des Vereins. Der hat auch für 2020 wieder ein attraktives Programm auf die Beine gestellt. Neben Lesungen und Exkursionen – in diesem Jahr zum Heine-Haus in Düsseldorf – auch besondere Formate wie eine Lyrik-Werkstatt oder ein Literaturrätsel.

„Literatur ist ein Blick über den Tellerrand,
schafft Distanz zum Alltag.”

Dagmar Nowitzki

Dagmar Nowitzki führte viele Jahre erfolgreich ein Familienunternehmen. „Das kulturelle Engagement war immer mein Ausgleich“, stellt sie fest. Und ihre eigentliche Profession. Denn die Vorsitzende der Literarischen Gesellschaft ist Kunsthistorikerin und Literaturwissenschaftlerin. Sie bringt sich, wie jeder aus dem Vorstand, mit ihren Kompetenzen ein. „Wir verstehen uns alle gut und arbeiten als Team zusammen“, sagt Dr. Dagmar Nowitzki. Bei ihr laufen die Fäden zusammen. Auch, wenn es um Veranstaltungen geht, die jedes Jahr rund 1.400 Besucher ansprechen. Tendenz steigend. „Aber, wie viele Vereine, stellen auch wir fest, dass gerade junge Menschen ungern eine Mitgliedschaft eingehen“, bringt Dagmar Nowitzki die Herausforderung auf den Punkt, das kulturelle Leben in Bielefeld vielfältig zu halten. Dafür sorgen Jahr für Jahr rund 16 Veranstaltungen. „Das erste Quartal steht. Wir sind sehr glücklich, wieder ein tolles Programm anbieten zu können.“ Den Auftakt bildet in Kooperation mit dem Kunstforum Hermann Stenner Alfred Döblins Novelle „Das Stiftsfräulein und der Tod“ (21.1., 19 Uhr, Kunstforum Stenner). Die Schauspiellesung wird – neben weiterer Prosa Döblins – von John Wesley Zielmann vorgetragen, ergänzt um Projektionen von Holzschnitten des Expressionisten Ernst Ludwig Kirchner. „Viele expressionistische Künstler suchten den Kontakt zur Literatur, auch Kirchner und Döblin kannten sich“, so die 60-Jährige. Saša Stanišić, den aus Bosnien und Herzegowina stammenden deutschsprachigen Autor, erwartet der Verein am 29.1. „Wir hatten anscheinend das richtige Gespür, denn wir haben ihn bereits vor seiner Auszeichnung mit dem Deutschen Buchpreis angesprochen. Er ist ein unglaublich guter Autor“, stellt Dagmar Nowitzki fest. Einen weiteren außerordentlichen Autor, ausgezeichnet mit dem Büchnerpreis, holt die Literarische Gesellschaft mit Lukas Bärfuß (5.2.) in die Stadt.

Norbert Scheuer, dessen Roman ‚Winterbienen‘ bereits auf der Shortlist stand, aber vom literarischen Quartett zerrissen wurde, begrüßt die Literarische Gesellschaft dann am 4.3. Dagmar Nowitzki hat den Roman kurz nach dessen Veröffentlichung gelesen. Und war begeistert. „Als Vorstand arbeiten wir uns durch die Neuerscheinungen der Verlage, studieren Rezensionen und jeder liest schließlich das, was ihn anspricht“, erklärt sie das Prozedere. Bei dem geht es neben der privaten Leseleidenschaft natürlich auch darum, Ideen für die Programmgestaltung zu entwickeln. Dabei richtet der Verein den Blick auch auf den Nachwuchs und holt – in Kooperation mit ‚Wege durch das Land‘ – die erst 25-jährige Helene Bukowski mit ihrem eindrucksvollen Debütroman „Milchzähne“ in die Uni Bielefeld (15.5.). „Sehr spannend“, betont Dagmar Nowitzki, die damit auch ein junges, studentisches Publikum ansprechen möchte. Sie selbst ist gerade aus der Jetztzeit in frühere Jahrhunderte eingetaucht, liest Eduard von Keyersling und stimmt sich damit auf Theodor Fontane und Gottfried Keller ein. „Literatur ist ein Blick über den Tellerrand, schafft Distanz zum Alltag und macht mir immer wieder deutlich, dass nichts unlösbar ist.“

Vollständiges Programm unter: www.literaturhaus-bielefeld.de

Historisch

Steffen Kopetzky / Propaganda / Rowohlt Berlin / 25 €

Historisch exakt recherchiert und gleichzeitig mit überbordender Phantasie komponiert – Stef fen Kopetzky verknüpf t in diesem Roman zwei Kriege mitei – nander. Das verbindende Element ist der Protagonist namens John Glück, ein Deutsch-Amerikaner, der in der Propaganda- Abteilung der US-Armee Dienst tut. Seine Feuertaufe besteht er in der Schlacht im Hürtgenwald, in der die US-Armee im Herbst 1944 beim Vorrücken auf deutsches Gebiet schlimmste Verluste einstecken musste. Knapp dreißig Jahre später enthüllt derselbe John Glück die sogenannten Pentagon Papers, die belegten, dass die US-Regierung darüber nachdachte, im Vietnam-Krieg den Einsatz von Atomwaf fen zu befehlen. Dafür muss er vier Jahre ins Gefängnis. Vom Propaganda- Maulhelden zum Whistleblower, mit diesem John Glück hat Kopetzky eine Figur erschaffen, die sowohl Züge eines Kriegshelden besitzt und dann wieder an Forrest Gump oder Don Quichotte erinnert. (H.O.)

LEISE

Susanne Mayer / Die Dinge unseres Lebens – Und was sie über uns erzählen / Berlin Verlag / 20 €

Aussortieren, entsorgen, Platz schaffen. Dem aktuellen Zeitgeist setzt Susanne Mayer eine andere Haltung entgegen. Die Autorin rollt nicht als herzloses Aufräumkommando durch das verwaiste Elternhaus, sondern nimmt sich Zeit für die Erinnerungen, die das gute Goldrand-Geschirr oder die Kleider ihrer Mutter wecken. Leise und nachdenklich haucht sie scheinbar toten Gegenständen Leben ein. Während sie durch Fotoalben blättert und all die anderen Dinge betrachtet, die sich im Laufe eines Lebens angesammelt haben, entsteht so ganz nebenbei ein vielschichtiges Familienporträt. Und nicht zuletzt die Geschichte einer ganzen (Kriegs-)Generation, die sich jenseits der heutigen Wegwerf-Mentalität bewegte. Dass sich am Ende im Keller der Autorin ein paar Kartons mehr stapeln, versteht sich wohl von selbst. (S.G.)

POLITISCH

Wolfgang Schorlau / Der große Plan / KiWi / 11 €

Das Auswärtige Amt beauftragt Georg Dengler nach der verschwundenen Mitarbeiterin Anna Hartmann zu suchen. Sie hat der Troika zugearbeitet, die die Rettung Griechenlands mit Milliardenkrediten überwacht. Doch auf welchen Konten sind diese Gelder tatsächlich gelandet? Schorlau hat gewohnt gründlich recherchiert und die Ergebisse in eine fesselnde Story gepackt. Die Griechenland-Rettung erscheint in einem ganz anderen Licht als die veröffentliche Meinung uns weismachen wollte. Endlich als Taschenbuch! (E.B.)

Perfide

Jussi Adler Olsen / Opfer 2117/ dtv / 24 €

Am Strand von Ayia Napa auf Zypern wird eine tote Frau angeschwemmt. Sie ist Opfer Nr. 2117, denn so viele Menschen sind bereits auf ihrer Flucht über das Mittelmeer ertrunken. Doch dann stellt sich heraus, dass die Frau ermordet wurde. Der Medien-Hype ist groß. Aber was hat das alles mit Assad zu tun, der im Sonderdezernat Q in Kopenhagen an der Seite des grummeligen Kommissars Carl Mørck arbeitet? Eine ganze Menge, denn nach und nach entblättert Jussi Adler Olsen Assads Vergangenheit, um die er in den sieben Bänden zuvor ein großes Geheimnis gemacht hat. Bald wird deutlich, dass Mørck und sein Team einen perfide geplanten Terroranschlag im Herzen von Europa verhindern müssen. Zeitgleich beschließt ein psychisch gestörter Gamer in der dänischen Hauptstadt blutige Rache zu nehmen für Opfer 2117. Und die Uhr tickt. Adler Olsen läuft zu Höchstform auf und präsentiert einen meisterhaft verwobenen Thriller, der unter die Haut geht. (E.B.)

Zukunftsmusik

Emma Braslavsky / Die Nacht war bleich, die Lichter blinkten / Suhrkamp / 22 €

Die Wirklichkeit mal ein paar Jahre vorgestellt und schon befindet man sich mitten in diesem finsteren Metropolenmärchen einer höchst phantasievollen Autorin. Berlin pulsiert dank einer blühenden Humanoid- Robotik-Industrie. Dank künstlicher Partner*innen ist nahezu jeder Beziehungswunsch erfüllbar. Doch gleichzeitig hat sich die Selbstmordrate verzehnfacht. Da kommt eine neue Robotergeneration auf den Markt, Roberta genannt. Sie soll die Hinterbliebenen der Selbstmörder ausfindig machen, um dem Sozialamt die Bestattungskosten zu ersparen. Mit einem unnachahmlichen Gespür für aktuelle gesellschaftliche Bruchstellen und einem sprachlichen Drive, der mit Effekten nicht spart, hat Emma Braslavsky eine kühne Zukunftsvision entworfen. (H.O.)

FABELHAFT

Manu Causse / Die grüne Ente / Droemer / 9,99 €

Ein unglaublicher Road-Trip, der von Liebe und Verletzung, Hoffnung und Überforderung, Selbstzweifeln und Kindheitstraumata, aber auch von kleinen Wundern erzählt. Mal schräg, mal poetisch, immer aber mit viel Menschlichkeit. Und mittendrin eine grüne Ente, eine 2 CV, Baujahr 1973, die mit viel tragischer Geschichte im Gepäck eine neue Reise antritt. Der Geist eines Onkels, seine bei einem Unfall mit diesem Auto verstorbenen Eltern und die Kommentare der Katze Sphinx begleiten Eric und seinen autistischen, zehnjährigen Sohn Isaac auf ihrer ziellosen Fahrt durch Frankreich. Während Eric verzweifelt um sich und seinen Sohn ringt, heftet sich ein ungewöhnlicher französischer Dorfpolizist an seine Fersen. Und Marion, die gegen ihre Schmetterlinge im Bauch ankämpft, will das erste Mal in ihrem Leben nicht verschwinden. Ein Roman voller Zwischentöne. (C.B.)