Herber Charme und großzügige Portionen, das sind zwei unveränderliche Kennzeichen norddeutscher Gastlichkeit. Zunächst zum herben Charme: Sagt man uns Ostwestfalen schon ein eher schwerblütiges Temperament, bisweilen gar ein knurriges Gemüt nach, so bildet die norddeutsche Mentalität dazu noch Steigerungsformen. Eigentlich hätten uns die Türschilder auf dem Backsteinhaus in der Hansestadt Wismar schon einen deutlichen Hinweis geben müssen: „Modder Griebsch, Hebamme“ stand auf dem einen Schild. Da scheint Geburtshilfe der handfesten Art das Motto zu sein. Darunter ein zweites Schild „De Hosenschieter, Baby-Krabbelgruppe“. Auch da weiß man auf Anhieb, woran man ist. Schon am Vormittag hatten wir die „Herb aber herzlich“-Art des norddeutschen Menschenschlages woanders kennengelernt. In Schlutup, nordöstlich von Lübeck gelegen, steuerten wir den Werksverkauf des Fischkonserven-Herstellers Hawesta an. Bratheringe oder Heringsfilets in Tomatensauce – lecker! Wir erwarteten den klassischen Lagerverkauf. Aber nein, ein kleines Verkaufsfenster war alles. Im Raum dahinter stand ein schon im höheren Rentenalter befindlicher Mann. Wir fragten die blödeste aller möglichen Touristenfragen: „Was haben Sie denn so im Angebot?“ Der Mann im trockensten Norddeutsch: „Douden Fisch in Dosen.“ Besser kann man‘s nicht sagen. Aber zurück nach Wismar und zu den großzügigen Portionen. Der kühle Maitag mit seinem makrelenfarbenen Himmel verleitete uns am Nachmittag dazu, eine gemütliche Teestube aufzusuchen und uns zwei Becher Friesentee und ein Stück Kuchen zu gönnen. Sagte ich ein Stück Kuchen? Wenn norddeutsch geschnitten wird, ist das kein Stück, sondern ein Schlachtschiff von Kuchen, sozusagen die „Bismarck“ aller gedeckten Apfelkuchen. Nachdem wir jeder eines dieser Schwerkaliber verdrückt hatten, dümpelten wir eher träge als angeregt über das Kopfsteinpflaster der Hansestadt. Aber für den Abend stand noch der Besuch eines Fischrestaurants auf dem Programm. Und nach ein paar Runden durch die wunderbare Altstadt war der Kuchen verdaut und ein kleiner Appetit meldete sich. Der Blick auf die Speisekarte des Fischlokals vermochte es, den Appetit noch ein wenig Richtung Hüngerchen zu steigern. Doch schon die Frage der Kellnerin (Modder Griebsch im Nebenjob?) hätte mir Warnung genug sein müssen: „Na, min Jung, hassu Hunger mitbrrocht?“ Ich bestellte leichtsinnig Rotbarsch mit Bratkartoffeln und kleinem Salat und bekam dann einen Teller, bei dem ich mich unwillkürlich fragte, wie viele der köstlichen Hochseefische allein für diese überbordende Portion im Netz gelandet waren. Geradezu heldenhaft – wer will schon Modder Griebsch verärgern? – zwang ich mir Neptuns Fang komplett rein, musste ihn anschließend aber mit drei Aquavit wässern, damit die Flossenviecher wenigstens etwas Flüssigkeit unterm Kiel hatten. Also, wenn Sie mal richtig Hunger haben: Sie wissen, in welche Himmelsrichtung Sie fahren müssen.