Eine Entscheidung ist gefragt

Die Widerspruchslösung ist gescheitert. Weiterhin bedarf es der ausdrücklichen Zustimmung des Spenders zur Organentnahme. 9.400 Menschen standen 2018 in Deutschland auf einer Warteliste. Es gab allerdings nur 955 Spender. Wir haben mit Dr. med. Bernhard Gockel, Transplantationsbeauftragter im Klinikum Bielefeld und Leitender Oberarzt in der Klinik für Innere Medizin und Rheumatologie, gesprochen.

Bernhard Gockel
Transplantationsbeauftragter im Klinikum Bielefeld und Leitender Oberarzt in der Klinik für Innere Medizin und Rheumatologie
Herr Dr. Gockel, sind Sie enttäuscht, dass die Widerspruchslösung gescheitert ist?

Ja ich bin schon enttäuscht. So sehr ich die Argumente der Befürworter der Zustimmungslösung verstehe, so sehe ich mich als Arzt und Intensivmediziner als Anwalt der Patienten, die auf ein neues Organ und damit auf die Chance für ein neues Leben warten. Und diese Menschen sind vor allem enttäuscht.

Wird das Gesetz denn tatsächlich die Entscheidungsbereitschaft stärken?

Letztendlich wird sich aus meiner Sicht nichts ändern. Das neue Gesetz zur Zustimmungslösung tritt erst 2022 in Kraft. Wirklich neu ist nur das Online-Register. Nur wie dieses funktionieren soll, ist bislang vollkommen offen. Eine Aufklärungaufforderung zur Organspende hatten bisher schon Hausärzte, ja auch Mitarbeiter von Krankenkassen und Behörden. Jeder von uns kennt den Zeitdruck beim Besuch des Hausarztes (und seinen vollen Terminkalender), beim Gang zur Behörde und Krankenkasse. Keiner wird ernsthaft glauben, dass in Zukunft dort Gespräche stattfinden, die eine eingehende Beschäftigung mit diesem schwierigen Thema ermöglichen.

NEUES GESETZ

Am 16.1. 2020 hat der Deutsche Bundestag den Gesetzesentwurf „Stärkung der Entscheidungsbereitschaft bei der Organspende“ beschlossen. Das Gesetz sieht vor, dass die Bereitschaft, Organe nach dem eigenen Tod zu spenden, regelmäßiger erfragt werden soll. Künftig soll eine Erklärung zur Organspende auch in einem Online-Register und den Ausweisstellen möglich sein. Außerdem sollen Hausärzte die Patienten ermuntern, eine Entscheidung zu dokumentieren. Das Gesetz wird zwei Jahre nach seiner Verkündung in Kraft treten, voraussichtlich im ersten Quartal 2022.

Quelle: www.organspende-info.de
Umfragen zeigen: bis zu 80 Prozent der Deutschen können sich vorstellen, Organe zu spenden. Einen Organspendeausweis besitzen immerhin 36 Prozent der Deutschen. Und dennoch ist die Zahl der tatsächlichen Spenden so niedrig. Was lässt die Menschen zögern?

Gerade die Tatsache, dass etwa 80 Prozent der Bevölkerung eigentlich positiv einer Organspende gegenüberstehen, demgegenüber nur knapp 40 Prozent einen Organspendeausweis besitzen, stellt für mich das wichtigste Argument für eine Widerspruchslösung dar. Aber es sollte nicht sein. Es gibt viele Gründe, warum Menschen letztlich zögern, einen Organspendeausweis auszufüllen. Das ist natürlich schon eine besonderer Schritt, den viele nicht tun möchten. Als wichtigsten Grund sehe ich die Tatsache, dass die meisten Menschen in dem Bewusstsein leben, dass der Zeitpunkt des persönlichen Todes oder lebensbedrohlicher Erkrankung weit, weit entfernt liegt, und dass sie deshalb das Thema Organspende nicht betrifft. Das ist ein legitimer psychologischer Mechanismus. Außerdem besteht keine klare Vorstellung davon, was genau passiert, wenn jemand schwerst erkrankt, beatmet und im tiefen Koma auf der Intensivstation liegt. Die Frage: Was passiert dann mit mir, was ist der Gehirntod, verspüre ich Schmerzen, werden meine Organe zu früh herausgenommen usw. Das sind natürlich elementare und schwierige Fragen, die verunsichern. ORGAN Bei einigen Menschen, mit denen ich auf der Intensivstation spreche, verspüre ich seit dem Organspendeskandal von 2012 noch immer einen Vertrauensverlust in das System „Organspende“.

„Die Ansprüche an eine sichere Hirntod-Diagnostik sind so hoch, dass nur bei dem geringstem Hauch, dass da nur noch eine minimale Restaktivität des Gehirns vorliegt, die Organe nicht entnommen werden.“

Dr. med. Bernhard Gockel
Wie sicher ist die Hirntod- Diagnostik?

Die Ansprüche an eine sichere Hirntod-Diagnostik sind so hoch, dass nur bei dem geringstem Hauch, dass da nur noch eine minimale Restaktivität des Gehirns vorliegt, die Organe nicht entnommen werden. Aus meiner persönlichen Erfahrung in den letzten zwei Monaten kann ich dieses nur bestätigen. Wir betreuten zwei Patienten auf unserer Intensivstation, bei denen sich alle Beteiligten – auch die zusätzlichen Fachleute, die laut Gesetz hinzugezogen werden müssen – aufgrund der klinischen Untersuchung sicher waren, dass das Gehirn keine Aktivität mehr zeigt, aber in einer Zusatzuntersuchung war ein Restfluss in einem kleinen Gehirngefäß noch nachweisbar. So konnten die Organe nicht explantiert werden, obwohl beide Patienten und die Angehörigen dieses ausdrücklich gewünscht haben. Das tut weh, zu wissen, dass für einige Menschen, die dringend auf ein Organ warten, eine Chance vergeben wurde.

Ist es für die Angehörigen noch schwieriger, Abschied zu nehmen, wenn jemand durch die Apparatemedizin scheinbar am Leben gehalten wird?

Natürlich ist das ein schwieriger Moment, und dieses muss man offen kommunizieren. Der Angehörige macht den Eindruck, als würde er schlafen. Hier kommt es darauf an verstehbar zu machen, was genau passiert. Ein Leben wird aufrechterhalten, weil es der medizinisch-technische Fortschritt ermöglicht. Unter „normalen“ Bedingungen, oder noch vor 30 bis 40 Jahren, hätte es längst schon einen natürlichen Tod gegeben. Dann hätte sich die Frage nach Fortsetzung der lebensverlängernden Maßnahmen oder Organspende erst gar nicht gestellt. Hier ist nicht nur der Arzt in der Pflicht diesen Zustand ohne Verletzung für die Angehörigen zu vermitteln, sondern auch der Patient selbst. Hat er zu Lebzeiten festgelegt, wie in einer solchen Situation verfahren werden soll – nicht nur die Frage der Organspende –, ist das für alle Beteiligten von großem Nutzen.

SIMONE FRANKE (53)

Ich habe keinen Organspendeausweis, denn ich
habe Angst, dass ich in einer Notsituation nicht mehr die Hilfe bekommen würde, die ich bräuchte. Grundsätzlich ist das Organspenden eine tolle Sache. Doch meine Meinung ist gespalten: Wer garantiert mir, dass zuerst alles getan wird, um mein Leben zu retten?

TAG DER ORGANSPENDE

Am 3. Juni ist Tag der Organspende. Hier wird denen gedankt, die im vergangenen Jahr Menschenleben durch ihre Entscheidung für eine Organspende gerettet haben. Sicherlich ein guter Tag, um sich mit dem Thema näher zu beschäftigen.

Wenn der Verstorbene einen Organspenderausweis hat, die Angehörigen einer Entnahmen allerdings nicht zustimmen, wie verhalten Sie sich?

Hierzu habe ich eine ganz klare Position. Es sollen alle Beteiligten ohne Verletzung, Widersprüche, Ungereimtheiten oder im Dissens aus einer solchen schwierigen Situation herauskommen. Beschließt der Familienrat, dass eine Organentnahme nicht erfolgen soll, erfolgt keine Entnahme, auch wenn die eigentliche Person zu Lebzeiten gewünscht hat, dass die Organe gespendet werden sollen.

Was müsste getan werden, damit sich die Spendenbereitschaft erhöht?

Der Umgang mit der Frage Tod und Sterben, was soll mit mir geschehen, wenn ich unheilbar oder tödlich erkrankt bin, sollte selbstverständlicher werden. Das Thema gehört auf die tägliche Agenda. Nicht nur, wenn eine Entscheidung im Bundestag ansteht. So laufen in Spanien – Spitzenreiter in der Spendenbereitschaft in Europa – Werbespots vor der „Tagesschau“. Das Thema gehört an die Schulen, in kirchliche Gesprächskreise, an den Arbeitsplatz, in alle Bereichen des öffentlichen Lebens. Auch wir Ärzte sind gefordert, den Prozess der Organspende in unseren Alltag zu integrieren: bei den Patienten und Angehörigen den richtigen Ton zu treffen,
Vertrauen in die medizinischen Abläufe zu wecken, früh das Gespräch zu suchen, Vertrauen aufzubauen, auch wenn das Thema Sterben und Tod oder Organspende noch gar nicht im Raum steht.

HENRI STOSCHECK (22)

Ich befürworte die Organspende und habe daher auch selber einen Organspendeausweis. Denn was, wenn ich auch auf diese Hilfe angewiesen wäre? Ich würde auch wollen, dass mich eine Organspende rettet