Lernen auf Distanz braucht Konzepte

Die Corona-Krise hat die Defizite in Sachen Digitalisierung in Schule sichtbar gemacht. Sie reichen von der mangelnden Ausstattung an Hard- und Software bis hin zu fehlenden Konzepten und Inhalten. „Eigentlich ist es ein ganzer Strauß an Themen, die uns beschäftigen, wenn es um die Digitalisierung von Schule geht. Wir brauchen dringend Mindeststandards“, erklärt Maike Finnern, Vorsitzende der GEW NRW.

Der Unterricht aus der Ferne ersetzt nicht den Präsenzunterricht. Soviel steht für Maike Finnern fest. Doch sie gewinnt der derzeitigen Situation, die durch viel Distanz- und wenig Präsenzunterricht geprägt ist, auch Positives ab. „Dadurch ist erst die Diskussion entstanden, was Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler an Ausstattung benötigen. Mein Eindruck ist, dass jetzt sehr wohl darüber nachgedacht wird.“ Und so richtet sich ihr Blick bereits auf das neue Schuljahr. „Und da dürfte schnell klar werden, dass die fünf Milliarden Euro aus dem DigitalPakt Schule nicht ausreichen. Das ist deutlich zu wenig, wenn man bedenkt, was jede einzelne Schule letztendlich erhält“, erklärt die Landesvorsitzende, die in Bielefeld und Göttingen studiert und ihr Referendariat am Carl-Servering-Berufskolleg und der Marienschule in Schildesche absolviert hat. Sie plädiert dafür, den Topf bundesweit auf rund 20 Milliarden Euro aufzustocken. Das wären dann über vier Milliarden für NRW.

Von dem Nutzen digitaler Medien ist die Mehrheit der Lehrkräfte überzeugt. Das macht auch eine Mitgliederstudie der GEW deutlich. Schon vor der Corona-Krise nutzten die meisten GEW-Mitglieder regelmäßig digitale Medien und Kommunikationsmittel für den Unterricht, und zwar ihre privaten. „Wenn Lehrkräfte nicht ihre eigenen Endgeräte genutzt hätten, wäre zurzeit vielfach kein Unterricht möglich gewesen. Insofern muss auf der Hardware-Seite dringend etwas passieren“, betont Maike Finnern. Ein Bedarf, der aus ihrer Sicht auch SchülerInnen betrifft. Daher macht sich die 51-Jährige dafür stark, dass sowohl Lehrkräfte als auch SchülerInnen künftig mit einer besseren Ausstattung versorgt werden. Und blickt gen Schweden, wo ihnen Tablets oder Laptops leihweise zur Verfügung gestellt werden. „Unsere Lehrmittelfreiheit ist ein hohes Gut, aber wir dürfen die Chancengleichheit nicht aussetzen, weil wir die Digitalisierung haben“, betont die engagierte Bielefelderin. Als Konsequenz hält sie eine öffentliche Finanzierung von digitalen Endgeräten für den schulischen Gebrauch sowohl für Lehrkräfte als auch SchülerInnen für dringend erforderlich. „Bildungsinfrastruktur vorzuhalten, ist eine wichtige öffentliche Aufgabe. Bislang ist es aber nur möglich, dass ein Schulträger maximal 20 Prozent der Fördermittel aus dem DigitalPakt Schule für mobile Endgeräte einsetzt. Dabei ist der Landesvorsitzenden bewusst, dass es mit der bloßen Hardware für Lehrkräfte und SchülerInnen nicht getan ist.

94 PROZENT
der befragten GEW-Mitglieder in
NRW nutzen digitale Medien – wie
Internet, Smartboard, Tablets oder
Beamer – im Unterricht.


50 PROZENT
Der befragten Lehrkräfte stuft die
Nutzung digitaler Medien immer oder
häufig als sinnvoll für die Gestaltung
des Unterrichts oder das Lernen ein.

Denn im Kontext Digitalisierung wird schnell deutlich: Eins bedingt das andere. „Es braucht dringend IT-Fachleute in Schulen, denn der Support kann künftig nicht einfach weiter so nebenbei von Lehrkräften bewältigt werden. Er schluckt die Ressourcen der Lehrkräfte, die dann im Unterricht fehlen“, stellt siefest. Darüber hinaus müssen Programme eingesetzt werden, mit denen Lehrkräfte und SchülerInnen bedenkenlos arbeiten können. Zurzeit arbeiten diese mit unterschiedlichsten Messenger-Diensten und Video-Tools. Vernünftige Bedingungen für Lernen auf Distanz heißt für sie in diesem Zusammenhang, dass nicht jede Schule allein daran arbeiten muss, welche Messengerdienste und Plattformen für Videokonferenzen sie zur Verfügung stellt. „Es kann nicht sein, dass man seine Daten verkaufen muss, um arbeiten zu können“, so Maike Finnern.

Deshalb lautet ihr dringender Appell ans Land, ein System zur Verfügung zu stellen, das auch vor dem Hintergrund des Datenschutzes unbedenklich ist. Gleichzeitig muss geklärt werden, welche medienpädagogischen Konzepte der digitale Unterricht braucht. Worauf zielt Digitalisierung in Schule ab? Wo und wie müssen inhaltlich Schwerpunkte gesetzt werden?

Maike Finnern beschäftigen diese Fragen, ebenso wie Aspekte, die die Medienkompetenz der SchülerInnen und die der Lehrkräfte betreffen. Der Informatikunterricht, in den Jahrgangsstufen 5./6. als Pflichtfach angesiedelt, deckt ihrer Meinung nach den Bedarf nicht ab. Gleiches gelte für Fortbildungen für Lehrer rund um den Themenkomplex Digitalisierung. „Es braucht eine Fortbildungsoffensive, um eine vernünftige Abdeckung zu erreichen.

Es klafft eine Lücke zwischen Bedarf und Angebot. Fortbildungen scheitern oft an fehlenden relevanten Angeboten und zeitlichen Kapazitäten“, unterstreicht Maike Finnern. Auch gilt das, was schon vor Corona galt für Maike Finnern heute umso mehr: „Bund, Länder und Kommunen müssen mit einer gemeinsamen Kraftanstrengung dafür sorgen, dass neben deutlich mehr Geld für die Digitalisierung der Schulen, der Support geregelt, aber auch Konzepte erstellt und Standards gesetzt werden.“ Ein ihr wichtiges Anliegen ist dabei, dass Prozesse nicht ins Leere laufen. „Dafür braucht es eine Verantwortungsgemeinschaft von Land und Kommune“, betont Maike Finnern immer wieder. „Es kann nicht sein, dass Aufgaben einfach hin und hergeschoben werden.“

Mit Blick auf das kommende Schuljahr wagt sie aufgrund der aktuellen Situation einen Ausblick. „Solange die Abstandsregeln gelten, haben wir keine vollen Klassen“, macht sie deutlich. „Die jetzige Öffnung der Grundschulen geht mit dem Aufheben dieser einher – die geltenden Vorschriften einzuhalten, ist damit schwer. Und erkrankt eine Lehrkraft, kippt das ganze System.“ Ihre Prognose: Auch nach den Sommerferien könnte es einen Mix aus Präsenz und Unterricht aus der Distanz geben, um Ansteckungen und damit eine Ausbreitung von Covid-19 zu vermeiden. „Ein Blick in andere Länder wie Israel zeigt, das Schulen zu sogenannten Superspreadern werden können. Das heißt für uns, dass Regeln für den künftigen Unterricht entwickelt werden müssen. Und mein großer Wunsch ist es, dass die Lehrkräfte im Rahmen ihrer Möglichkeiten in Ruhe arbeiten und planen können.“

SVEN PACHUR, SCHULLEITER Luisenschule Bielefeld

Was läuft schon digital?

Wir haben zu Beginn der Schulschließung durch das Engagement einiger Informatikkollegen sofort die Plattform Bielepedia aktiviert, die Lehrkräfte in Gruppenfortbildungen eingeführt und ein Handbuch für Schülerinnen und Lehrerinnen erstellt. Nach ca. zwei Wochen haben alle dort Aufgaben eingestellt, auf die die Schülerinnen dann zugreifen konnten. Gleichzeitig führen zahlreiche Kolleginnen Web-Konferenzen durch. Das Kollegium engagiert sich extrem und es ist viel Know-how bei Einzelnen vorhanden. Davon profitieren wir und versuchen, dieses Know-how auch zukünftig zu nutzen und systematisch, aber behutsam das ganze Kollegium zu schulen. Beschlossen wurde jetzt, dass wir im kommenden Schuljahr mit MS Teams oder/und Logineo weitermachen, um die Schule auch für die Zukunft aufzustellen. Zahlreichen Schülerinnen haben wir Endgeräte bereitstellen können. Für das nächste Schuljahr würden wir bei Fortbestand des Homeoffice versuchen, den Schülerinnen durch einen „digitalen Stundenplan“ wieder eine feste Lernstruktur bzw. Tagesstruktur zu geben.

Was braucht es künftig?

Die Corona-Krise hat uns an den Stellen Probleme aufgezeigt, wo es auch schon im Vorfeld Bedarf gab. Probleme in der Umsetzung der Digitalisierung wurden der Kommune benannt, konnten aber bisher nicht entscheidend gelöst werden. Corona übt jetzt auf Akteure natürlich Zeit- und Handlungsdruck aus. Es ist jetzt wichtig, sich nicht unter Druck zu langfristig schlechteren Lösungen treiben zu lassen. Zahlreichen Kindern fehlt es zuhause an Endgeräten. Allein 40 Prozent unserer Schüler*innen haben keinen Zugriff auf einen häuslichen Drucker. Bei 20 Prozent fehlen Endgeräte wie Tablets oder Laptops. Die, die wir haben, sind zurzeit an Schüler*innen ausgeliehen. Über ein Smartphone und einen Internetanschluss verfügen jedoch die meisten. Die Textverarbeitung via Handy ist allerdings kaum sinnvoll machbar und es wäre wünschenswert, wenn über die Kommune oder über Bildung und Teilhabe beispielsweise Tablets angeschafft werden könnten. Die soziale Ungleichheit macht sich jetzt noch stärker bemerkbar. Darüber hinaus benötigen wir generell dringend Standards für digitales Lernen – und ganz praktisch – auch einen IT-Support. Letzterer ist ein großes Problem, da dies bislang schulintern geleistet wird und damit Lehrerstunden gebunden werden, die dringend für den Unterricht benötigt werden.

HANS-JÜRGEN SAGER,
SCHULLEITER Baumheideschule

Was läuft schon digital?

Wir haben während der Corona-Krise ganz viel mit Papier gearbeitet und den Schüler*innen Lernpakete geschnürt, die sie am 16. und 17. März noch persönlich abholen konnten. Danach haben wir dies auch per Post erledigt, da es digital nicht machbar war. Die Klassenleitungen haben den Kontakt zu ihren Schüler*innen gut gehalten. Durch den Präsenzunterricht, den wir in Blöcken geregelt haben, sind unsere Schüler*innen an mehreren aufeinanderfolgenden Tagen bei uns. Das bringt nicht nur Ruhe, sondern auch Kontinuität beim Lernen mit.

Was braucht es künftig?

Die Schüler*innen brauchen Infrastruktur zuhause. Das betrifft unsere Schülerschaft ganz besonders. Sie haben Handys, aber oft nicht mehr. Und darüber lassen sich Arbeitsaufträge nur mühsam, schwer oder teilweise gar nicht bearbeiten. Das heißt, es mangelt ihnen zuhause an Notebooks, Tablets und Druckern, aber auch an Schreibtischen, Raum und Ruhe und manchmal auch an Zuspruch in den Familien. Die häusliche Situation ist problematisch für den Lernerfolg und die Ausstattung ist nicht ausreichend. Wir haben bereits die Eltern angeschrieben, ob sie ihren Kindern die Ausstattung ihres Arbeitsumfeldes ermöglichen können, evtl. über das Mehr an Kindergeld. In der Schule selbst formulieren wir unsere Wünsche seit Jahren im Medienentwicklungsplan. Doch die sind größer als das, was die Kommune liefert. So wären Notebook- oder Tabletwagen super, um mobiler in Schule jenseits unserer beiden PC-Räume zu agieren, aber es braucht zudem erst einmal entsprechende Voraussetzungen, um in den Klassenräumen überhaupt digital arbeiten zu können.

FRAUKE MORITZ-THIELE,
DIDAKTISCHE LEITERIN Martin-Niemöller-Gesamtschule

Was läuft schon digital?

Wir haben hausintern Bielepedia genutzt und durch die Corona-Krise auf MS Teams umgestellt, in der Hoffnung damit verbindlich weiterarbeiten zu können. Kolleg*innen und Schüler*innen nutzen jetzt diese Plattform, mit der uns die Kommune versorgt hat. Natürlich muss dies von allen Seiten gelernt werden. Allerdings sind viele unserer Schüler*innen zuhause nicht mit Rechnern ausgestatte. Aber, die Alternative, das Handy zu nutzen, funktioniert. Darüber hinaus läuft an unserer Schule ein digitales Pilotprojekt. Unsere erste Laptop-Klasse ist Vorreiterin in Sachen Digitalisierung. Auch die Bereitschaft des Kollegiums für digitale Fortbildungen ist deutlich. Unser ITTeam leistet hier bei der Bereitstellung und Begleitung all dessen, was für digitales Lernen notwendig ist, Enormes zumal auch der Datenschutz eine erhebliche Herausforderung ist.

Was braucht es künftig?

Lernen lebt von sozialen, leibhaftigen Kontakten. Im Rhythmus zu bleiben, ist ganz schön schwierig für die Schüler*innen. Für viele ist das häusliche Lernumfeld belastend oder zumindest schwierig. Wichtig ist, dauerhaft eine Plattform zu haben, wo man feste Zeiten vereinbaren kann und im Chat direkte Antworten erhält. Im Umkehrschluss bedeutet dies aber eben auch: Damit es funktioniert, müssen sich alle Kinder anmelden können und digitale Tools nutzen können.

DIGITALISIERUNG IN KITAS

Gemeinsam mit dem Stifterverband für die deutsche Wissenschaft fördert das Land NRW im Programm „Curriculum 4.0.nrw“ insgesamt 22 Projekte zur Digitalisierung der Curricula in Studiengängen an Hochschulen. Ein Teil der Förderung geht an den Fachbereich Sozialwesen der Fachhochschule (FH) Bielefeld. Prof. Dr. Helen Knauf, Professorin für Bildung und Sozialisation im Kindesalter, war mit ihrem Antrag „Digitalisierung in Kindertageseinrichtungen“ erfolgreich. „Die Digitalisierung ist längst auch in den Kitas angekommen, das muss sich daher auch im Lehrplan für die Studierenden widerspiegeln“, erklärt Knauf. Kinder sollen in den Kindertagesstätten lernen, mit Medien kreativ und produktiv umzugehen. Dabei sollen sie aber auch über die Gefahren aufgeklärt werden, die durch die digitalen Medien entstehen. Um dieser Herausforderung gerecht zu werden, müssen die Fachkräfte selbst Medienkompetenz erlangen.

So können sie beispielsweise digitale Medien zur Vor- und Nachbereitung, zur Elternkommunikation, zur Weiterbildung und zur Organisation der Kindertageseinrichtung nutzen. „Genau mit diesen Bausteinen sollen sich die Studierenden auch in ihrem Studium auseinandersetzen“, sagt Knauf. Im Rahmen der Lehrveranstaltung werden sich die Studierenden theoretisches Wissen über digitale Medien aneignen, sich aber auch Praxiseinblicke erarbeiten. Der Fokus liegt dabei auf der Analyse eins digitalen Instruments, wie beispielsweise einer App für Kinder, nach dem Prinzip des Forschenden Lernens. „Die Veranstaltung findet außerdem im Format Blended Learning statt, also einem Zusammenspiel aus Online- und Präsenzphasen“, erklärt Knauf. Die Ergebnisse der Lehrveranstaltung sollen schließlich in einem eigens angelegten Weblog präsentiert werden. „So können wir die Ergebnisse auch für die Öffentlichkeit zugänglich machen“, so Knauf.

„Die Digitalisierung ist längst auch in den Kitas angekommen, das muss sich daher auch im Lehrplan für die Studierenden widerspiegeln“

Prof. Dr. Helen Knauf

MARCO GRAHL-MARNIOK,
SCHULLEITER Carl-Severing-Berufskolleg
für Wirtschaft und Verwaltung

Was läuft schon digital?

Zurzeit ist die Digitalisierung in der Schule eine große Spielwiese, auf der in den letzten Wochen Erfahrungen gesammelt wurden. Und: Es ist sicher noch vieles verbesserungswürdig. Das Positive: Ein Anfang ist gemacht. Inzwischen machen viele Kolleg*innen Unterricht via Web-Konferenzen. Das spontane Engagement der Lehrkräfte, sich mit neuen Formaten auseinanderzusetzen, ist gut. Ebenso das der Schüle*innen, die sich – je nach Lehrkraft – auch auf unterschiedliche Tools einstellen müssen.

Was braucht es künftig?

Künftig muss es eine einheitliche Plattform geben, die die Schulen ihren Bedürfnissen entsprechend aussuchen können. Und zwar auf dem Level der Zeit. Da unterscheiden sich vielleicht auch die Anforderungen eines Berufskollegs von denen einer allgemeinbildenden Schule. Zudem brauchen wir in Sachen Digitalisierung eine Struktur und einen roten Faden sowie vom Schulträger Unterstützung in Form von Man- und Womenpower. Im Digitalpakt war zunächst kein Mehr an Personal vorgesehen, da scheint es jetzt ein Umdenken zu geben. Wir brauchen nicht 1.000 neue Geräte, sondern mehr personelle Unterstützung. Wir stecken 1,5 Lehrerstellen in die Wartung der Geräte. Das ist Zeit, in der die Lehrkraft für den Unterricht ausfällt. Aber wir brauchen diese natürlich auch, um die Rechner am Laufen zu halten. Gleichzeitig müssen wir Unterricht neu denken. Schon seit 30 Jahren sprechen wir über guten Unterricht und manchmal sieht man Lehrer*innen noch wie früher nur vorn an der Tafel stehen. Wir müssen Schüler*innen einfach anders und zwar digital abholen. Da ist noch viel drin. Gleichzeitig ist in diesem Kontext Datenschutz ein weiteres Thema, um das wir uns kümmern müssen. Er darf uns aber keine Handschellen anlegen. Da braucht es klare und alltagstaugliche Regelungen vom Ministerium.