SPUREN SCHREIBEN
Erinnerungen an Vergangenes bewahren und gleichzeitig (be)greifbar machen. Das sind zwei spannende Aspekte, um unsere Gegenwart überhaupt verstehen zu können. Wir stellen Bielefelder*innen vor, die sich auf ganz unterschiedliche Weise mit der Geschichte unserer Stadt auseinandersetzen.
Am 13. Dezember 1941 wurden 420 Jüdinnen und Juden über Bielefeld in das Rigaer Ghetto deportiert. Etwa 80 von ihnen wohnten in Bielefeld. „Es ist eine von inzwischen 180 Spuren zur Bielefelder Geschichte zwischen 1933 und 1945, die interessierte Bielefelder*- innen auf unserem Onlineportal Spurensuche finden“, erklären Jan-Willem Waterböhr und Helmut Henschel vom Stadtarchiv Bielefeld.
Das partizipative Portal zur Erinnerungskultur rückt eine der wichtigsten Zäsuren der Bielefelder Stadtgeschichte in den Fokus. Am 13. Dezember 2021 ging es anlässlich des 80. Jahrestages der Deportation in das Rigaer Ghetto – es war eine der ersten aus Bielefeld heraus – online. Der Weg dieser Deportation findet sich auf der interaktiven Stadtkarte wieder und zeichnet den Weg der Menschen im sprichwörtlich doppelten Sinn nach. Denn die Jüdinnen und Juden waren vor ihrer Deportation in der Gaststätte „Kyffhäuser“ am Kesselbrink einquartiert worden. Auf engstem Raum zusammengepfercht. Ihr Weg zum Bahnhof, wo sie auf den Zug warten mussten, führte sie mitten durch die Stadt.
„Wir wollen Orte, Ereignisse und den Widerstand im Stadtbild in den Blick rücken, den Zugang zu Biografien von Opfern und Täter*innen in Bielefeld ermöglichen und damit die Strukturen der systematischen Verfolgung offenlegen“, formuliert der Historiker Jan-Willem Waterböhr den Anspruch an die Plattform, die sich zudem mit „weißen Flecken“ wie Zwangsarbeit, Verfolgung von Sinti und Roma oder Kriegsgefangenschaft in Bielefeld auseinandersetzt. Die Erinnerungskultur wach zu halten, ist ein Aspekt unter vielen. „Durch das Onlineportal können wir Inhalte erstmals einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machen“, betont Jan-Willem Waterböhr. Aktiv daran beteiligt sind Bielefelder Initiativen, Vereine und Institutionen, aber auch Wissenschaftler* innen nutzen die Plattform. „Was ist in den Bielefelder Häusern, in denen die in der NS-Zeit verfolgten Jüdinnen und Juden lebten, passiert?“, „Welche Geschichten gibt es dazu?“ sind Fragen, für die sich dank engagierter Akteurinnen in den unterschiedlichen Spuren Antworten finden. Neben kurzen Beiträgen, den Spuren, die miteinander sinnvoll verknüpft werden, hält das Portal auch längere Dossiers bereit. Bis Ende des Jahres sollen es vier sein. Sie liefern Hintergründe und ordnen das Geschehen in Bielefeld in einen größeren Kontext ein. „Das Portal wächst dynamisch“, betont Jan-Willem Waterböhr. Dass die Anzahl der Beiträge steigt, liegt auch an den interessierten Bielefelderinnen, Schülerinnen und Studierenden. „Wir können viele Quellen für die Recherche zur Verfügung stellen“, unterstreicht Historiker und Archivar Helmut Henschel. Er kümmert sich vor allem um die pädagogische Vermittlung und pflegt den Kontakt zu den Bielefelder Schulen, die im Rahmen des Unterrichts zur NS-Zeit ins Stadtarchiv kommen. Themen zu finden, wo Schülerinnen die Quellen gut erschließen können, ist ihm wichtig. Die Ergebnisse aus dem Unterricht können am Ende als Beitrag ins Onlineportal einfließen. So, wie ein Beitrag zu Artur Ladebeck, der nicht ins Konzentrationslager kam, weil er aufgrund eines Magengeschwürs ins Krankenhaus eingeliefert wurde. „Das ist ein Narrativ, das die Schülerinnen spannend fanden. Man könnte aber auch ein SPD-Narrativ dazu verfassen“, so Jan-Willem Waterböhr, der, wie Helmut Henschel, mit dem Engagement und den Ergebnissen der Schülerinnen mehr als zufrieden ist. Vor der Veröffentlichung werden die kurzen Texte der Schülerinnen, aber auch aller anderen Akteurinnen, geprüft und gegengelesen „Es gibt aber kein Peer-Review, das heißt, wir gehen nur selten auf Quellenebene runter“, betont Jan-Willem Waterböhr. Ende des Jahres dürften aus den bislang 180 bereits 200 Beiträge geworden sein. Darunter befinden sich auch alltagsbezogene Spuren zu Carl Severing, Emil Gross und Thekla Lieber. Dass sich die Spurensuche im Bereich der Täter schwierig gestaltet, wissen beide Historiker, da die Quellenlage „dünn bis nicht existent ist“. „Und wenn es doch etwas gibt, befinden sich die Unterlagen in den Landesarchiven. Und die im Stadtarchiv zu findenden Wiedergutmachungsakten sind häufig sehr trockene Kost, die muss man erst einmal lesen und verstehen können, um eine Verfolgungsgeschichte zu rekonstruieren“, weiß Helmut Henschel, dem der Prozess und die Auseinandersetzung der Schüler*innen mit dem Thema wichtiger ist als das Ergebnis. „Die Auseinandersetzung mit Geschichte ist als Ausdruck der Erinnerungskultur wichtig!“ „Gleichzeitig ist Erinnerungskultur nicht nur Geschichte, sondern eine Möglichkeit Orte aus einem anderen Blickwinkel wahrzunehmen“, betont Jan-Willem Waterböhr. So, wie den Standort der ehemaligen Synagoge. Von dem ehemaligen Prachtbau ist nichts mehr zu sehen. Nur ein Gedenkstein weist noch darauf hin. ✔ www.spurensuche-bielefeld.de