Die neue Theaterspielzeit
Nadja Loschky und Michael Heicks begrüßen die Besucher*innen der Pressekonferenz zur neuen Theaterspielzeit im gut eingeübten Sprechchor. Ein klares Signal für den Beginn ihrer gemeinsamen Intendanz. „Mit dieser Form der Doppelspitze betreten wir in Deutschland Neuland“, unterstreicht Michael Heicks.
Neu ist auch das Motto der Spielzeit 2023/24. Keine gesellschaftspolitische Aussage wie „Alles könnte anders sein“, mit der das Theater Bielefeld zuletzt unfreiwillig hellseherische Fähigkeiten bewiesen hat, sondern ein kurzer verbaler Alleskönner: ach. „Ob klagend oder ironisch, leichtfüßig oder pathetisch, gehaucht oder gebrüllt – jede Anwandlung scheint ihm gut zu Gesicht zu stehen, und in beinahe jedem Kontext weiß es ein anderes, neues Quäntchen Subtext auszustrahlen“, so Nadja Loschky. „Schmerz, Mitleid, Bedauern, Verwunderung, Staunen, Sarkasmus, Fassungslosigkeit, Unmut, Verlangen, Verstehen – in diesen drei Buchstaben steckt eine ganze Palette menschlichen Empfindens und damit ein großes Geheimnis, das viel mit dem Menschsein an sich zu tun hat“, fährt Michael Heicks fort. „So ist das ach viel mehr an das Fühlen und Erleben angebunden als an das Denken: Ausdruck für etwas, das sich kaum ausdrücken lässt – in Sprache gefasste Sprachlosigkeit. Etwas Ungesagtes wohnt in diesem Wort, etwas Unsagbares, und genau dieses Unsagbare wird auf der Bühne erfahrbar. Deshalb hat sich das Theater Bielefeld für die Spielzeit 2023/24 dieses sinnreiche Wort auf die Fahnen geschrieben. Ach, das ist ein Grenzgänger zwischen gedachter Sprache und körperlicher Regung: Ist es überhaupt ein Wort, oder vielmehr ein Laut, ein Seufzen – vor Schmerz oder vor Glück? Für uns stellt dieses ach in der kommenden Spielzeit die Frage: Wie wollen wir der Welt begegnen? Mit Klagen: ach je!, mit Lakonie: ach was, oder mit Staunen: ach wie schön!“
Musiktheater
Grund genug für all diese Anwandlungen bietet der Spielplan allemal. Beginnend mit dem Musiktheater, das zahlreiche starke Frauenfiguren in den Mittelpunkt stellt. So etwaLady Ganymere, weiblicher Gangsterboss im Musical Der Mann, der Sherlock Holmes war, das am 3.9. Premiere feiert. Diese „musikalische Räuberpistole“ ist eine hinreißende Hochstapler- und Verwechslungskomödie nach dem gleichnamigen UFA-Film von 1937 mit Hans Albers und Heinz Rühmann. „Mit Georges Bizets Carmen folgt ein Repertoire-Klassiker. Das Werk steht unangefochten an der Spitze der populärsten Opern der Welt. Kein Wunder angesichts der emotionalen Kraft der selbstbewussten und freiheitsliebenden Titelfigur. Rossinis Meisterwerk Der Barbier von Sevilla zündet dagegen ein Feuerwerk an Komik und Koloraturen rund um den Friseur Figaro, der eine Menge verrückter Ideen hat, um Rosina und dem Grafen Almaviva zu ihrem (Liebes)-Glück zu verhelfen. Basierend auf dieser Oper entwickelt Regisseurin Nadja Loschky gemeinsam mit dem Komponisten Michael Wilhelmi erstmals eine Familienoper-Uraufführung fürs Stadttheater: Doktor Bartolos Geheimnis oder In Sevilla sind die Mäuse los ist ein turbulenter Spaß für Kinder und Erwachsene von 6 bis 99 Jahren. Arthur Honegger schrieb 1935 ein ungewöhnliches Oratorium nach einem Libretto von Paul Claudel: In Johanna auf dem Scheiterhaufen werden die Hauptrollen von Schauspieler*innen übernommen, Chor, Sänger*innen und Orchester verdichten das Geschehen atmosphärisch, das wie ein innerer Film Johannas unmittelbar vor ihrem Flammentod abläuft. Das Theater Bielefeld präsentiert dieses beeindruckende Werk als Lichtspieloper mit starker Bildkomponente in der Rudolf-Oetker-Halle. Beflügelt von seiner späten Liebe zu einer 38 Jahre jüngeren Frau schrieb Leoš Janáček vor rund hundert Jahren mit Katja Kabanowa ein so beklemmendes wie musikalisch großartiges Psychogramm einer unterdrückten Frau. The Convert (Beten – zu wem?) des belgischen Komponisten Wim Henderickx kommt als deutsche Erstaufführung auf die Bühne des Stadttheaters. Mit Vigdis, die sich in einen Juden verliebt und daher die im Frankreich des 11. Jahrhunderts lebensgefährliche Entscheidung trifft, vom Christentum zum Judentum zu konvertieren, stellt er eine starke, doch innerlich zerrissene Frau in den Mittelpunkt seiner Oper. Als spartenübergreifende Produktion zeigt das Theater Bielefeld Der Sandmann nach der gleichnamigen Erzählung von E.T.A. Hoffmann von der britischen Singer-Songwriterin Anna Calvi und dem weltweit gefeierten Regisseur Robert Wilson. Zu guter Letzt stellt Giuseppe Verdis Falstaff die bürgerliche Welt in Frage.
Tanztheater
TANZ Bielefeld steht mit Beginn der kommenden Spielzeit unter der künstlerischen Leitung von Felix Landerer (Bild links), der bei der Pressekonferenz noch per Video zugeschaltet ist. „Ich freue mich sehr auf die Spielzeit und bin positiv aufgeregt“, lacht der neue Chefchoreograf. „Die offene, direkte Kommunikation und das wahre Interesse am zeitgenössischen Tanz haben mich an Bielefeld gereizt.“ Felix Landerer bringt eine expressive, moderne und herausfordernde Bewegungssprache mit, die er dem Bielefelder Publikum in zwei eigenen Uraufführungen präsentieren wird: Hotel Many Welcome (Premier am 21.10.) ist ein Tanzstück an der Schwelle zwischen Realität und Fiktion: Ein*e Mitarbeiter*in empfängt die Hotelgäste und hat dabei eine genaue Vorstellung, wie sie sich zu verhalten haben. Die absurde Sortierung der Angekommenen ist hier Chefsache. Nichts wird dem Zufall überlassen und doch passieren ganz außergewöhnliche Dinge. Die zweite Produktion, Acts of Resistance and Repair, ist eine Kooperation zwischen TANZ Bielefeld und Landerers in Hannover ansässigem Ensemble Landerer & Company. Er thematisiert darin den schwer fassbaren Zerfall in unserer Gesellschaft und unternimmt den Versuch, wieder ein Ganzes zu schaffen. 14 Künstler*innen stehen gemeinsam auf der Bühne des TOR 6 Theaterhauses und erschaffen ein gesellschaftlich relevantes und zugleich poetisches Spannungsfeld. Für die dritte Uraufführung der neuen Tanzsaison konnte das Theater Bielefeld eine der derzeit angesagtesten Choreograf*innen des zeitgenössischen Tanzes gewinnen: die serbisch-niederländische Filmemacherin und Choreografin Dunja Jocić. Ihre hypnotischen, multimedialen Tanztheater-Kreationen entstehen in Zusammenarbeit mit international renommierten Kompanien und Künstler*innen aller Genres. Für das Bielefelder Ensemble kreiert sie ein Stück, das visuelle Komponenten und einen faszinierenden Bewegungsstil – manchmal minimalistisch, manchmal entschieden physisch – verwebt. Im Februar präsentiert TANZ Bielefeld im Stadttheater zudem wieder ein Gastspiel einer internationalen Kompanie.
Schauspiel
Im Schauspiel beginnt die Saison mit drei Premieren: In Schillers Kabale und Liebe kämpfen Luise und Ferdinand in einer Welt aus starren Hierarchien und falsch verstandener Moral um ihre Liebe. Carina Sophie Eberles Uraufführung else (someone) – eine Adaption von Arthur Schnitzlers Fräulein Else – ist eine Coming-of-Age- Geschichte zwischen aufgedrückten Geschlechterrollen und alltäglicher sexueller Belästigung. Und Markolf Naujoks hat mit Die goldene Stadt ein Stück für Kinder (10+) und Erwachsene in bester Fantasy-Manier geschrieben, in dem die zwölfjährige Kara auf der Flucht vor einem Monster-Riesenaffen den Weg in eine paradiesische Welt sucht. Florian Zellers rasante Komödie Eine Stunde Ruhe lässt einen scheinbar harmlosen Alltagswunsch zum absoluten Chaos mutieren, bei dem am Ende selbst der Boden nicht mehr hält. Im Mittelpunkt des Familienstücks zur Weihnachtszeit stehen ein Zauberer, eine Hexe, ein Kater und ein Rabe – Michael Endes Kinderbuchklassiker Der satanarchäolügenialkohöllische Wunschpunsch steckt voll sprühendem Witz und verblüffender Aktualität. Anne Jelena Schulte verwebt in der Uraufführung Die Alleinunterhalterin individuelle Lebensgeschichten von Bielefelder Alleinerziehenden zu einer Komödie, die mit Herz, Humor und Live-Musik zu einem außergewöhnlichen Theaterabend wird. Joël Pommerat macht in Die Wiedervereinigung der beiden Koreas die komischen wie tragischen Aspekte von Liebe erlebbar und lädt dabei zum Lachen, Leiden und Mitfühlen ein. Ein berührendes, vielstimmiges Porträt über den Alltag von Menschen während des Zweiten Weltkriegs kommt als Romanbearbeitung auf die Bühne: Arno Geigers Unter der Drachenwand. Was bringt eine*n unbekannte*n Entertainer*in mit Weltschmerz und wirren Träumen mit einem erfolgreichen Unternehmer ohne Weltschmerz und wirre Träume zusammen? Diese Frage ist der Ausgangspunkt von Laura Naumanns neuem Text Nicht mein Feuer, mit dem ihr ein politisch-emotionales Psychogramm mit hohem Wiedererkennungswert gelungen ist. Shakespeares Komödie Was ihr wollt spielt mit Geschlechterrollen, mit Schein und Sein, Fremd- und Selbstverliebtheit. Regisseur und Filmemacher Konrad Kästner bringt mit Apokalypse, bitte! (Arbeitstitel) einen neuen Video-Theater-Essay an der Grenze zwischen Dokumentation und Fiktion auf die Bühne. Um auf aktuelle Themen und Stoffe unmittelbar eingehen zu können, wird David Gieselmann unter dem Titel en woke innerhalb weniger Wochen ein Stück schreiben, das die Schauspieler*innen direkt auf die Bühne bringen. Und damit es auch noch bei der zehnten Vorstellung nicht out und passé ist, wird es beständig aktualisiert und mit neuesten News gefüttert. Die Schauspiel-Saison endet mit Die Optimistinnen: Gün Tanks »Roman unserer Mütter« füllt eine Leerstelle in der männlich geprägten Geschichte der sogenannten »Gastarbeiter*innen «. Er erzählt von (weiblicher) Solidarität und dem enormen Beitrag, den diese Frauen deutschlandweit im Arbeitskampf geleistet haben. Als Wiederaufnahmen sind Stolz und Vorurteil* (*oder so) und der Janis Joplin-Abend Cry Baby (Bild unten) sowie Der nackte Wahnsinn und Herman Melvilles Moby Dick geplant.
jungplusX
Die Vermittlungsabteilung der Bühnen und Orchester der Stadt Bielefeld jungplusX ergänzt die Premieren in Musiktheater, Schauspiel und Tanz mit eigenen Produktionen. So finden auch in der kommenden Spielzeit unter dem Titel Schrittmacher drei Community-Dance-Projekte statt. Natürlich bringt auch der Jugendclub des Theaters wieder eine Produktion mit Aufführungsserie auf die Bühne. Wer eine Idee für einen Stoff oder ein Thema hat, kann sich für das Format jungplusX-Selbstauslöser bewerben, um dann mit professioneller Unterstützung eine eigene Inszenierung herauszubringen. Im Dezember kommt das nächste Stück der Reihe Parallele Welten zur Premiere. Unter dem Titel Anne, Mama, Mumiya beschäftigen sich die Projektteilnehmer*innen mit dem universellen Thema »Mutter«. In der Schreib- und Theaterwerkstatt Parallele Welten finden bereits seit 2010 Bielefelder*innen mit und ohne Einwanderungsgeschichte zusammen, um sich im Perspektivwechsel zu üben und schreibend und schauspielend ein gemeinsames Stück zu kreieren.
Das Spielzeitheft mit dem gesamten Programm der Saison 2023/24 ist ab Anfang Juni erhältlich. Dann startet auch der Kartenvorverkauf für die ersten Produktionen.