Es tut sich so einiges im Blätterwald. Hier kommen unsere Lektüre-Tipps.
Helge Timmerberg – Joint Adventure
Piper, 22 €
Heftig diskutiert ist die Legalisierung von Cannabis in Deutschland. Helge Timmerberg hat dazu eine ganz klare Meinung: Legalize it! Er kennt sich gut mit der Droge aus. Weiß, wie sich eine Kiffer-Paranoia anfühlt, und dass es sehr schwer ist, davon wieder loszukommen. In seinem neuen Buch nimmt er die Leserschaft mit auf eine höchst unterhaltsame Reise in die Welt des Cannabis. Gewohnt schonungslos zu sich selbst und frappierend offen beleuchtet Timmerberg, der einst seine Ausbildung in Bielefeld gemacht hat und als junger Mann trampenderweise nach Indien aufgebrochen ist. Für Joint Adventure besuchte er viele Orte, an denen er schon mehrfach war. Natürlich Amsterdam, das benachbarte Kifferparadies. In Marokko besucht er die Erzeuger und in Thailand stellt sich ihm nach der Legalisierung von Cannabis eine ganz veränderte Situation dar. Wer Eindrücke aus erster Hand lesen will, ist bei Helge Timmerberg an der richtigen Adresse.
Tove Alsterdal – Blinde Tunnel
Kindler, 22 €
Es ist ein ganz besonderer Krimi, den Tove Alsterdal geschrieben hat. Sonja und Daniel wollen ihre Ehe retten und erfüllen sich einen Traum: Das schwedische Paar kauft ein Weingut in Tschechien. Das Anwesen liegt seit dem Zweiten Weltkrieg brach, verströmt jedoch eine betörende Magie. Bei ihren Renovierungsarbeiten entdecken sie ein Kellergewölbe mit Weißwein aus den Kriegsjahren. Und die mumifizierte Leiche eines Jungen mit weißer Armbinde. Die Polizei hat kein Interesse, der Sache nachzugehen, aber mithilfe der Anwältin Anna erfährt Sonja mehr über die bewegte Geschichte des Dorfes, die Annexion der Gebiete durch Hitler und das unendliche Leid der Bevölkerung. Doch dann wird Anna ermordet und Daniel als Verdächtiger verhaftet. Warum ist keiner der Bewohner bereit, mit Sonja über das, was in den Tunneln unter dem Dorf geschehen ist, zu sprechen? Es soll nicht zu viel verraten werden. Nur so viel: Es ist gut, dass dieser Spannungsroman aus einer schwedischen und nicht einer deutschen Feder stammt.
Kate Morton – Heimwärts
Heyne, 25 €
In diesen fast 700 Seiten starken Roman kann man wunderbar eintauchen. Man fühlt sich zu Hause. Und darum geht es bei Kate Morton: Wo ist das? Das, was wir zu Hause nennen? Sie entspinnt eine starke Geschichte, die auf zwei Zeitebenen spielt. Zum einen im Jahr 1959 in den Adelaide Hills. Am 24. Dezember – es ist Hochsommer in Australien – picknickt eine Mutter mit ihren Kindern im Schatten eines Baumes an einem Bach. Als wenig später ein Nachbar sein Pferd dort tränken will,ist niemand mehr am Leben und ein Säugling verschwunden. Die Suche verläuft erfolglos und auch die Geschehnisse dieses folgenschweren Nachmittags bieten Raum für Spekulationen. Fast sechzig Jahre später wird die Journalistin Jess aus England zurück nach Australien gerufen. Ihre Großmutter Nora liegt nach einem Unfall im Krankenhaus. Geschwächt und verwirrt, murmelt Nora Unverständliches vor sich hin. Der Sinn erschließt sich Jess erst, als sie eine überraschende Verbindung zu den tragischen Geschehnissen in den Adelaide Hills herstellt – und zu ihrer eigenen Familiengeschichte. Spielerisch springt Kate Morton zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart hin und her, ohne den Leser abzuhängen – und das mit ziemlich ausgebufftem Cliffhangern, die dafür sorgen, dass man beim Lesen dranbleibt. Denn spannend ist dieser außergewöhnliche Roman bis zum Schluss.
Dietlind Falk – No Regrets
hanser blau, 22 €
Gibt es eigentlich einen besseren Namen für ein Tattoostudio als „No Regrets“? Nö, ist die klare Antwort von den zwei Freunden Hänk und Muddy, die seit Jahrzehnten der Kunst des Stechens nachgehen. Aber genau so sieht ihr Laden, der sich irgendwo im Ruhrgebiet befindet, auch aus. Ein streng riechender ausgestopfter Alligator im Schaufenster, leere Bierflaschen auf der Anmeldungstheke und ohrenbetäubender Metal. Ganz klar – schick geht anders. Sie brauchen dringend neue Kundschaft und holen sich die junge spanischstämmige Luz (genant Lutz) ins Haus. Das geht zunächst nur bedingt gut. Aber ganz allmählich entwickelt sich zwischen den drei Originalen – wie man im Ruhrgebiet sagen würde, anderswo wären es Außenseiter – so etwas wie eine Freundschaft. Mal schreiend komisch und dann wieder tieftraurig spiel Dietlind Falk auf der gesamten Klaviatur der Emotionen.
Eva Völler – Helle Tage, dunkle Schuld
Droemer, 16,99 €
Wir schreiben das Jahr 1948 – vor der Währungsreform. Das Ruhrgebiet liegt in Trümmern und jeder Tag ist ein harter Kampf um ein bisschen etwas zu essen. Carl Brunns darf wieder als Kriminalbeamter in Essen arbeiten, nachdem die Nazis ihn mit einem Berufsverbot belegt hatten und ihm nur der Steinkohleabbau unter Tage blieb. Der tödliche Fenstersturz einer Frau führt ihn nach Köln. Nicht ganz zufällig, denn dort wohnt die Schwiegertochter der Toten. Und die Schwester besagter Schwiegertochter, deren Sohn das Haus in Essen erbt, war vor dem Krieg Carls erste große Liebe Anna. Zeitgleich erfährt der Kommissar von einer grauenvollen Bluttat, die sich drei Jahre zuvor gegen Kriegsende ereignet hat. Während er dem flüchtigen Täter von damals nachspürt, geschehen weitere Morde. Erst allmählich erkennt Carl Bruns, dass sie Teile eines tödlichen Puzzles sind, bei dem Anna eine tragende Rolle spielt. Mit viel Fingerspitzengefühl bei der Figurenzeichnung wird ein Stück deutscher Geschichte, das in Teilen auf wahren Begebenheiten beruht, sehr lebendig.
Ulrike Sterblich – Drifter
Rowohlt Hundert Augen, 23 €
Ein Roman, der Wirklichkeit und Wunder zu einem berauschenden Lese-Cocktail mixt. Und dazu modern, cool und randvoll gespickt ist mit lässigen Sätzen. Die Handlung? Fragt mich was Leichteres. Es geht um zwei Freunde, Wenzel und Killer, beide beruflich in Sachen PR und Social Media unterwegs. Als Killer im Wahrsten Sinne des Wortes von einem Blitz gestreift wird, verändert er sich spürbar Richtung „back to normal“. Gleichzeitig lernen sie Vica kennen, eine Art Lebens Influencerin in goldenem Kleid, die über wundersame Kräfte und Möglichkeiten verfügt. Verrückte Start-ups entstehen, seltsame Videos mit Hunden und Ziegen gehen viral, ein Konglomerat von Wohnungen in einem maroden Plattenbau-Hochhaus entwickelt sich zur angesagten Event-Location. Ein weiteres Rätsel durchzieht den Roman: Wer ist dieser geheimnisvolle Kult-Schriftsteller namens Drifter, dessen Bücher zu Leit-Bibeln der Digital-Gemeinde werden? Hier noch ein Hinweis an die geneigte Leserschaft: Bevor ihr das Buch aufschlagt, gebt eure Ansprüche an Logik und Stringenz an der Garderobe ab und lasst euch einfach treiben vom wunderbaren Formulierungs- und Einfallsreichtum von Ulrike Sterblich. (H.O.)
Ulrich Woelk – Mittsommertage
C.H. Beck, 25 €
Dicht angesiedelt an der aktuellen politischen und gesellschaftlichen Lage in der deutschen Hauptstadt Berlin, zeigt das neue Werk von Ulrich Woelk, wie leicht ein scheinbar banales Ereignis einen ganzen Lebensentwurf nachhaltig erschüttern kann. Das Leben der Philosophieprofessorin Ruth Lember könnte nicht besser sein: Sie steht kurz vor der Berufung in den einflussreichen Deutschen Ethikrat und ihr Mann gewinnt eine wichtige Architektur-Ausschreibung. Aber als sie eines Morgens beim Jogging von einem Hund gebissen wird, gerät der karriereorientierte Lebensplan ins Wanken. Wie Bakterien in einer Bisswunde nistet sich plötzlich Unsicherheit ins Leben der Protagonistin ein. Ein Begleiter aus ihrer politisch bewegten Vergangenheit meldet sich und erinnert sie an eine justiziable Aktion aus ihrer Aktivistinnenphase. Und auch der Zusammenhalt mit ihrem Mann erweist sich brüchiger als gedacht. Woelk gelingt es spannungsreich und mit seismographischer Genauigkeit, die Selbstzweifel und die zunehmende Unsicherheit einer einstmals souveränen Protagonistin spürbar werden zu lassen. (H.O.)