Der Bücher-Herbst hält wieder Überraschendes bereit. Hier eine kleine Auswahl.
Andreas Eschbach – Die Abschaffung des Todes Lübbe, 26 €
Drei hochkarätige Unternehmer aus dem Silicon Valley haben ein ehrgeiziges Ziel: Sie wollen den Tod abschaffen. Der Journalist James Windover entdeckt jedoch, dass die Unternehmer, während sie Milliarden von Investoren einsammeln, insgeheim versuchen, einen Schriftsteller zum Schweigen zu bringen – weil sie eine Story fürchten, die er geschrieben hat. Was steht darin, das das Projekt gefährden könnte?
James begibt sich auf die Suche nach dem Mann und gerät rasch selbst in tödliche Gefahr. Eschbach gelingt es auch hier wieder, drängende Themen unserer Zeit zu einem rasanten Thriller mit philosophischen Gedankenspielen zu verweben: Was macht uns als Menschen eigentlich aus? Was darf KI und wie steht es um die Objektivität von Nachrichten? Unbedingt lesen! (E.B.)
Jørn Lier Horst – Wisting und der ungewollte Verrat
Piper, 15 €
Allein der Auftakt des Kriminalromans ist furios: Nach tagelangen Regenfällen kommt es zwischen Larvik und Stavern zu einem folgenreichen Erdrutsch, viele Häuser werden zerstört. Wisting und sein Team richten sofort eine improvisierte Krisenleitstelle ein. Bei Sonnenaufgang des Folgetages sind alle Bewohner ausfindig gemacht, das Unglück forderte wie durch ein Wunder keine Opfer. Da entdecken Helfer unter den Trümmern eine Leiche. Der Mann wurde erschossen – laut Gerichtsmedizin 48 Stunden vor dem Erdrutsch.
Wisting gerät in einen Fall, der von ihm einen unfassbaren Verrat fordert und das Wichtigste in seinem Leben bedroht: seine Familie. Packend erzählt Jørn Lier Horst von einem moralischen Dilemma und was es mit einem Menschen macht. (E.B.)
John Wray – Unter Wölfen
Rowohlt, 26 €
Über die reinigende Kraft des Death Metal habe ich auch noch keinen literarischen Roman gelesen. Drei Jugendliche wachsen in einem toten Winkel Floridas auf. Kip wird bei seiner Oma groß, Kira lebt im Trailer ihres übergriffigen Vaters und Leslie, androgyn und schwarz, ist oft homophoben Attacken ausgesetzt. Klar ist, sie müssen hier weg, wo es anscheinend nur Rentner, Bullen, Drogenköche, Sümpfe, Alligatoren und Palmen gibt. Aber ihr Trip nach L.A. wird alles andere als einfach. Träume bleiben unerfüllt, dennoch werden neue Lebenswege sichtbar. Und immer Death Metal als höllischer Antriebsmotor.
Wer den lakonischen Stil von John Wray kennt, wird sich über diesen wuchtigen 470-Seiten-Roman wundern. Aber es lohnt sich. Wray beherrscht die Kunst der präzisen Beschreibung ebenso wie die Kunst des coolen Dialogs. (H.O.)
Thomas Korsgaard – Hof
Kanon, 25 €
Tues Welt ist klein. Sie beschränkt sich auf den Hof im ländlichen Dänemark, auf dem er mit seinen Eltern und seinen beiden Geschwistern lebt. Das Geld ist immer knapp. Tues Mutter zockt und spricht nicht viel, weil sie krank ist. Das versteht Tues Vater nicht, der die Zeitung von hinten liest, die Todesanzeigen zuerst. Mit Hundezucht, Goldzahn-Verkauf und dem Diebstahl von Kupferkabel versucht er, für ein paar Lichtblicke im Leben der Familie zu sorgen. Doch Tue sehnt sich nach mehr, er entdeckt seine Homosexualität, knüpft Freundschaften und nach den Sommerferien will er das Gymnasium besuchen.
Mit großer Zärtlichkeit erzählt Thomas Korsgaard die Geschichte einer Kindheit: inspiriert von seiner eigenen. Der grandiose Auftakt der Trilogie um Tue. Man darf gespannt sein, wie es weitergeht. (E.B.)
Helmut Krausser – Freundschaft und Vergeltung
Berlin Verlag, 25 €
Ein deutscher Autor springt mir nichts dir nichts ins Genre des englischen Internatsthrillers – und wie gekonnt und überraschungsreich! Raven Hall ist ein eher kleineres Internat, dessen Überleben auch nur dank der großzügigen Zuwendung eines Industriellen ermöglicht wird. Dass dieser Gönner eine kurzfristig Affäre mit einer jungen Frau aus dem Lehrkörper hat und die Gelegenheit nutzt, seinen Schwerenöter von Sohn am Institut unterzubringen, bereitet den Boden für eine ebenso unterhaltsame wie abwechslungsreiche Plot-Entwicklung.
Als besagter Gönner ebenso spurlos verschwindet wie die stockkonservative Direktorin, schaltet sich die Polizei ein. Krausser versteht es meisterhaft, die Spannung hochzuhalten und er beherrscht dabei unterschiedlichste Tonlagen – ob die Perspektive eines gelangweilten Internatsschülers oder nüchternes Vernehmungsprotokoll. Für mich gehört Krausser in die erste Reihe deutscher Autoren, nur die Jurys, die Literaturpreise vergeben, haben es leider noch nicht gemerkt. (H.O.)
Leonardo Padura – Anständige Leute
Unionsverlag, 26 €
Havanna 2016: Die kubanische Hauptstadt befindet sich in heller Aufregung, denn der historische Besuch von Barack Obama, die erste Visite eines US-Präsidenten seit 88 Jahren, und das legendäre Rolling-Stones-Konzert stehen kurz bevor. Die Polizei hat alle Hände voll zu tun. Ausgerechnet jetzt wird ein berüchtigter Kunst-Zensor tot aufgefunden. Ein Mann, der die Existenz etlicher politisch unliebsamer Künstler zerstörte. Ein Mann, der viele Feinde hatte. Conde ermittelt und und vertieft sich zugleich in eine kubanische Legende: 1909, als der Halley’sche Komet für Weltuntergangsstimmung sorgt, entzündet ein Mord im Rotlichtmilieu eine Fehde zwischen zwei Gangsterbossen.
Zu Condes Überraschung ergeben sich zwischen Gegenwart und Vergangenheit ungeahnte Verbindungen. Und es steht die Frage im Raum: Wird es einen Wandel in dem sozialistischen Landes geben, das über viele Jahrzehnte unter der politischen wie wirtschaftlichen Blockade gelitten hat – insbesondere die bettelarme Bevölkerung? Die Mangelwirtschaft macht den Kubanern das Leben schwer. Nur Bier und Rum fließen in Strömen, aber Toilettenpapier ist kaum zu bekommen. In einem Havanna zwischen Rausch und Ernüchterung, Hoffnung und Verzweiflung zeichnet Padura mit viel Liebe zu seinen Figuren ein Sittengemälde Kubas, das lehrreicher ist als jede Geschichtsstunde. Seine Schilderungen berühren und hallen lange nach. (E.B.)
Miranda July – Auf allen vieren
Kiepenheuer & Witsch, 24 €
Ist es mit der weiblichen Lust nach den Wechseljahren tatsächlich vorbei? Kann es einem Paar gelingen, die Sorgearbeit für das gemeinsame Kind gerecht zu teilen? Und woher weiß man, ob man das richtige Leben lebt? Fragen, die nicht neu sind. Doch wenn Miranda July sie stellt, dürfen sich die Lesenden auf verblüffende, verstörende und inspirierende Antworten – oder eher: noch mehr Fragen – gefasst machen. Wie die Künstlerin und Autorin das große Thema Weiblichkeit und Lust außerhalb von Konventionen behandelt, zieht schlichtweg in den Bann.
Die Heldin ihres neuen Romans ist eine mittelmäßig bekannte Künstlerin, die sich zum 45. Geburtstag etwas beweisen und allein im Auto von der Westküste der USA nach New York fahren möchte. Doch nur wenige Kilometer von ihrem Vorstadthaus mit Mann und Kind entfernt, verliebt sie sich vermeintlich in den Mann, der ihre Autoscheibe an der Tankstelle saubermacht, Davey. Sie mietet sich in einem billigen Motel ein, lässt ihr Zimmer von Daveys Frau völlig neu luxuriös einrichten und imaginiert sich in ein anderes Leben hinein. Und nein, die Story geht ganz anders weiter als gedacht … (S.G.)
Nora Bossong – Reichskanzlerplatz
Suhrkamp, 25 €
Es ist für eine Schriftstellerin eine ungeheure Herausforderung, sich mit der Geschichte einer glühenden Nationalsozialistin zu befassen. Sie zwischen zwei Buchdeckeln wieder lebendig werden zu lassen und dabei die gebotene Distanz zu wahren. Das ist Nora Bossong mit ihrem intensiven Porträt der Frau, die Magda Goebbels wurde, und das ihres jungen Liebhabers herausragend gelungen. Als Hans die junge und schöne Stiefmutter seines Schulfreunds Hellmut Quandt kennenlernt, ahnt er noch nicht, welche Rolle Magda in seinem Leben spielen wird, für ihn persönlich, aber auch Jahre später als fanatische Anhängerin und Vorzeigemutter der Nationalsozialisten.
Während der Weimarer Republik ist Hans so heftig wie hoffnungslos in Hellmut verliebt. Doch nach einem Unglücksfall beginnen Hans und Magda eine Affäre, von der sie sich Trost und Vorteile versprechen: Sie will aus ihrer Ehe ausbrechen, er seine Homosexualität verbergen. Erst als Magda Joseph Goebbels kennenlernt und der NSDAP beitritt, kommt es zwischen Hans und ihr zum Bruch. Während Magda mit ihren Kindern bald in der Wochenschau auftritt, gerät Hans zunehmend in Gefahr. Nora Bossong zeichnet die Geschichte von zwei Menschen in der Maschinerie der historischen Ereignisse über 20 Jahre nach, beide unterschiedlich verstrickt und beide unterschiedlich schuldig geworden. Auch an sich selbst. (E.B.)