50 Jahre Schwulenbewegung in Bielefeld
Ein Gastbeitrag von Detlef Stoffel, Preisträger des BIEQueer-Award und Mitbegründer der Bielefelder Schwulenbewegung
„Nein, ich stehe nicht auf Frauen, sondern Männer find‘ ich scharf – ich bin schwul, ja ich bin schwul, und ich frag‘ nicht, ob ich darf …“ singen die Männer der Initiativgruppe Homosexualität Bielefeld IHB in der Bielefelder Bahnhofstraße vor der Kamera des WDR in der Doku „Schauplatz Gerichtstraße – Schwulengruppe Bielefeld“ (gesendet 1979). Die Sequenz wird immer wieder gerne in 70er Jahre Dokus des WDR verwendet – zuletzt am 27.8.22 in „Legendär! Unsere Helden der 70er“.
Vor 50 Jahren, am 30.11.1972, wird die Gruppe IHB (u.a. von Albert Broermann und Detlef Stoffel) gegründet. Unterstützung leistet die ZSB, Zentrale Studentenberatung der Uni Bielefeld. „Isoliert? Frustriert? Allein? Erkennt Eure Situation! Emanzipiert Euch! Wir wollen raus aus der Isolation, unsere Lage begreifen, uns selbst befreien.“ So der Text im Aufruf zur Gruppengründung. Vielfältig die Aktivitäten, die aus der Gruppe heraus entstanden und Bielefeld in den 70er Jahren zu einem Hotspot der frischen Schwulenbewegung der BRD machten – exemplarisch seien einige genannt: „Weg mit § 175“ – Die IHB beteiligt sich 1973 an der bundesweiten Plakataktion gegen den Paragraphen, der, von den Nazis verschärft, 1969 zum ersten Mal modifiziert und erst 1994 endgültig abgeschafft wurde. „Rosa Winkel? Das ist doch schon lange vorbei …“ An der Fakultät für Soziologie der Uni Bielefeld entsteht ab 1974 der Dokumentarfilm von Detlef Stoffel, Christiane Schmerl und Peter Recht. Die Bielefelder beschäftigen sich zum ersten Mal im Medium Film mit den Verbrechen der Nazis gegenüber Homosexuellen: „Über die gerade Linie der Schwulenunterdückung vom Faschismus bis heute und was Schwule dagegen tun.“ Im AJZ-Verlag erscheint ein Buch zum Film. Nach der Premiere am 6.11.1976 im Audimax der Uni Bielefeld zeigt und diskutiert Detlef Stoffel den Film in der ganzen BRD und in der Schweiz.
Schwul leben – in der Gerichtstraße, gleich neben dem legendären „Cafe Oktober“ entsteht Bielefelds erste schwule Wohngemeinschaft, nicht nur Lebensort für fünf schwule Männer, sondern auch Treffpunkt für Gruppensitzungen und Partys; Auch Szene-Promis wie Rio Reiser, Lilo Wanders, Georgette Dee, Corny Littmann u. a. übernachten gerne mal dort. Weitere schwule WGs bilden sich im Lauf der 70er.
„Brühwarm – ein schwuler Jahrmarkt“ – Aus Hamburg kommt nur das „Ödipus Kollektiv“, die erste schwule Theatergruppe, mehrfach nach Bielefeld. Ihr provokantes Stück begeistert die „Szene“ und scheucht die „Offiziellen“ auf: Aufführungsorte sind schwer zu finden, im KAMP wird den Mitarbeiter*innen mit Kündigung gedroht. Trotzdem, oder gerade deshalb, sind schwule Kulturschaffende regelmäßige Gäste in Bielefeld, und die Stadt bekommt auch ihre eigene Theatergruppe: „Schwul 8/15“ von Mike Gembus und Pedro Sobisch.
„Ausgesprochene Schweinerei“ (Leserbrief) – in einer Bielefelder Schülerzeitung („ff“) erscheinen auf Initiative der IHB und in Zusammenarbeit mit der Redaktion ein Artikel über die Ziele der IHB und ein Comic, der die Heterowelt auf den Kopf stellt: Die Heteros sind in der Minderheit und die Schwulen an der Macht, die Heteros proben den Aufstand und schlussendlich vertragen sich alle. Happy End, doch durch die Presse geht ein Aufschrei, die Verführung „der Jugend“ wird an die Wand gemalt, ein Schulrektor beschwört die „Krankheit der Homosexualität“, Stellungnahmen und Leserbriefe aus beiden Lagern werden veröffentlicht, die Schülerredaktion lässt sich nicht einschüchtern, weitere Artikel erscheinen … In der beliebten WDR Radiosendung „Radiothek“ berichten Karl-Hermann Reith und Detlef Stoffel ausführlich über ihre Erfahrungen in dieser Sache.
Schwul arbeiten – Auf einem Kotten in der Nähe von Bielefeld diskutieren aus der ganzen BRD angereiste Schwule zum Thema „Alternative Ökonomie“. Es geht darum Orte zu schaffen, an denen Schwule nicht nur gemeinsam leben, sondern auch für ihren Lebensunterhalt sorgen können. Der 1977 von Rolf Butzmühlen und Detlef Stoffel gegründete erste Bioladen der Region, „Löwenzahn“, wird für einige Zeit von einer Gruppe schwuler Männer betrieben – die eher prüde Ökoszene ist zurückhaltend, die KundInnen finden es gut. Corny Littmann, später Gründer des Hamburger Schmidt Theaters und Präsident vom FC St. Pauli, ist so begeistert, dass er sich für ein paar Monate im „Löwenzahn“ an die Kasse setzt. Der „Löwenzahn“ leistet sich auch einen „Ableger“: Im „Verlag Pusteblume“ von Jürgen Klaubert veröffentlichen schwule Autoren meist sehr persönlich geprägte Texte.
„Fernsehstars“ – Sichtbarkeit schaffen ist bald nach Gruppengründung ein wesentliches Anliegen der IHB, Sichtbarkeit mit dem Credo Akzeptanz statt Toleranz. Über die „Radiothek“ wird ein Redakteur des WDR, Gerald Baars, aufmerksam. In Abstimmung mit der IHB realisiert er den 45-Minuten-Beitrag für die Sendereihe „Schauplatz“. „Schauplatz Gerichtstraße – Schwulengruppe Bielefeld“ soll am 19.12.1978 im Hauptprogramm des WDR ausgestrahlt werden und wird bundesweit in der Programmpresse angekündigt. Fernsehdirektor Loch verhindert kurzfristig die Ausstrahlung. Stattdessen wird eine angeblich aktuelle Berichterstattung über die Gefährlichkeit des Boxsports gesendet. Erst nach bundesweiten Protesten und einigen Nachdrehs zur „Objektivierung“ erfolgt die Ausstrahlung am 30.1.1979 im Dritten Programm des WDR.
Schwule Politik – Für eine schwule Aktionsgruppe gibt es 1972 keine Vorbilder. Und zunächst gibt es auch keine Strategie. Der Film von Rosa von Praunheim und Martin Dannecker „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“ von 1971 prägt die Richtung, in die sich die Gruppe entwickeln wird: Anpassung an bestehende Verhältnisse ist keine Lösung, auch nicht an bestehende Parteien oder politische Gruppen. Die größte Übereinstimmung wird bei Teilen der Frauenbewegung gesehen. Als vermutlich einmalig in der BRD dürfen die Männer der Schwulengruppe für einige Zeit an einem Tag in der Woche das Frauenzentrum für ihr Gruppentreffen nutzen. Später entsteht das „Palais Schamlos“ im AJZ. Ende der 70er Jahre veröffentlicht die IHB ein Flugblatt: „Was wollen wir Schwulen eigentlich? Wir wollen freie Sexualität, d.h. gesellschaftliche Bedingungen, die jedem Menschen erlauben mit jedem anderen Menschen, gleich welchen Geschlechts, sexuelle Beziehungen einzugehen. Dazu gehört zwangsläufig die Abschaffung sämtlicher Geschlechterrollen, d.h. die Abschaffung der Heterosexualität. Dies wird nicht in dieser Gesellschaft möglich sein, die ein Interesse an Selbstunterdrückung, Fortpflanzungsdenken, Männer-über-Frauen-Herrschaft und Männer-Konkurrenz hat. So wird jede(r) angepasst an ein System, das aus Unterdrückung und Abhängigkeiten besteht. Daran gibt es nichts zu reparieren und zu reformieren. Und der nächste Schritt hin auf die freie Sexualität wird die Befreiung der schwulen Sexualität bei jedem Mann und jeder Frau! Öffentliches Schwulsein stellt Heterosexualität in Frage und bereitet den Weg zur befreiten Gesellschaft, die frei ist von Sexualunterdrückung. Heterosexualität weg! Schwul in die 80er Jahre!“ Diese Einstellung wird nicht von allen Beteiligten der Schwulenbewegung geteilt.
Demo – Unter dem Motto „Hoch die Erregung“ findet am 3.10.1981 die erste schwule Demonstration Bielefelds statt – lange vor dem ersten CSD. Die IHB löst sich in den 80er Jahren auf, aber sie ist sicher Initialzündung für andere Gruppen in vielen Zusammenhängen, die in der Stadt entstehen, z.B. die bis heute bestehende AIDS-Hilfe. Aktuell werden die queeren Aktivitäten in der Stadt vom BieQueer e.V. koordiniert. Begriffe wie „queer“ oder „LGBTQIA+“ waren in den 70er Jahren nicht verwendet.