Lover’s Material
Mit der Einzelausstellung «LOVER’S MATERIAL» von Monica Bonvicini präsentiert die Kunsthalle die erste große Ausstellung von Christina Végh. Zeitgleich eröffnen die Ausstellungen «WIR HABEN DIE SCHNAUZE VOLL» von Jeremy Deller und «Auguste Rodin | Jeff Wall. DIE DENKER» sowie «RAUM, ZEIT, ARCHITEKTUR, GENDER. Blick in die Sammlung #1».
Auftakt für Christina Végh
Dieser vielgestaltige Auftakt ist kennzeichnend für das Programm Christina Véghs an der Kunsthalle Bielefeld: die Öffnung des Hauses und die Einladung zum Dialog verbunden mit dem Bewusstsein, dass Kunst einen wichtigen Beitrag in der Diskussion aktueller gesellschaftlicher Themen leistet. Dabei ist die Frage zentral, inwiefern historische Werke aus der Sammlung der Kunsthalle in Verbindung mit zeitgenössischen Diskursen neu gesehen werden können. Mit der künstlerischen Intervention im Stadtraum im Vorfeld der Ausstellung «Monica Bonvicini. LOVER’S MATERIAL» oder der neuen Konstellation, welche die Skulptur «Der Denker» von Auguste Rodin mit Werken von Jeff Wall eingeht, werden Spannungsfelder zwischen Museum und Stadtraum sowie Geschichte und Gegenwart aufgespannt.
Die Ausstellung «LOVER’S MATERIAL» von Monica Bonvicini erstreckt sich über das gesamte erste Obergeschoss der Kunsthalle und umfasst die neuesten Arbeiten der Künstlerin, von denen einige speziell für die Ausstellung in Bielefeld geschaffen wurden. Der Titel der Ausstellung bezieht sich auf die Biographie Philip Johnsons, den Architekten der Kunsthalle Bielefeld, und dabei im Besonderen auf die Beziehung Johnsons zu seinem damaligen Partner Jon Stroup. Franz Schulze, der Autor der Biographie, beschreibt Stroup als «unfehlbar zugetan, angenehm passiv und ewig dankbar für die materielle Großzügigkeit seines Liebhabers.» Diese nuancierte Beschreibung des unausgewogenen Machtgefüges zwischen den beiden Liebenden hat Bonvicini dazu animiert, in ihren Arbeiten für die Ausstellung zahlreiche private und öffentliche, politische und wirtschaftliche Abhängigkeiten, sowohl innerhalb als auch außerhalb von Ausstellungsräumen, zu untersuchen. Mit pointierter Kritik und dem ihr eigenen Humor reflektiert sie aktuelle Themen, die im Jahr 2020 zentral geworden sind: Die Räume, in denen wir leben, und die wir uns angeeignet haben, und die Fürsorge denen gegenüber, sowohl privat wie gesamtgesellschaftlich, mit denen wir diese Räume teilen.
Die Ausstellungsräume präsentieren eine Vielzahl an Narrativen und Choreographien aus Bildern, skulpturalen Werken und architektonischen Interventionen. Sie sind in Paaren und größeren Kompositionen arrangiert, als ob jeder Raum ein anderes Kapitel einer übergeordneten Geschichte darstellt. Die Gesamtheit der Ausstellung wird durch Sounds und Licht zusammengehalten, die durch die eher starre Architektur des modernistischen Ausstellungsraumes wandern. Dadurch wird zugleich der Effekt einer Annäherung an die und Détournemet von der Narration erzeugt.
Im Hauptraum der Ausstellung bedeckt Monica Bonvicini mit der Arbeit «Breach of Decor», einer großformatigen Komposition aus Teppichen, fast den gesamten Fußboden. Die Arbeit versammelt Bilder einer photographischen Serie, die von der Künstlerin über einen langen Zeitraum aufgenommen wurden. Die Fotografien verdoppeln den Blickpunkt der Betrachter*innen von oben. Sie zeigen Fragmente unterschiedlicher Bodenbeläge mit darauf liegenden Kleidungsstücken. Beim Laufen über die Arbeit erkunden die Besucher*innen Szenen, die aus dem eigenen Alltag bekannt erscheinen. Das Publikum findet sich in einem ambivalenten Schwindel von visuellen Perspektiven und ironischer Subversion wieder.
Die Wandinstallation «Never Tire» im angrenzenden Raum besteht aus Malereien, die Monica Bonvicini während der Zeit des Lockdowns geschaffen hat. Die Installation kreiert eine nebulöse schwarze, dunkelgraue und pinkfarbene Landschaft, aus der Maschendraht, Ketten und Textzeilen hervortreten. Die Textzeilen heben sich leuchtend vom undefinierten Hintergrund ab. Es handelt sich um Zitate aus Schriften von Roland Barthes, Judith Butler, Natalie Diaz, Soraya Chemaly und Andrea Dworkin. Die Textpassagen sind in sich verdreht, gekürzt und verändert und erlangen so eine neue, poetische Dimension: «Weep Me Crude», «Power Joy Humor & Resistance», «I Never Tire». Die Papierarbeiten sind auf vertikalen Aluminiumpanelen mit sichtbaren Metallrändern befestigt und erinnern dadurch an politische Protestschilder, in denen sich die Vielstimmigkeit von Forderungen, Aussagen und Inhalten manifestiert. Die unmittelbaren Assoziationen, die durch das Werk aufgerufen werden, sind zugleich persönlich, politisch und aktuell.
Weitere neue Arbeiten in der Ausstellung sind eine Videoarbeit und eine ortsspezifische Installation. Die ausgestellten Werke unterscheiden sich stark in ihrer Größe, kleinere skulpturale Interventionen verschmelzen fast mit dem Innern des Museums. Die Ausstellungsräume erfahren durch die Künstlerin eine Domestizierung und die klare, makellose Anmutung des Museums wird ästhetisch dekonstruiert durch verschiedene Objekte von ungewöhnlichem, nahezu abjekthaftem Dekor. Auf diese Weise befragt «LOVER’S MATERIAL» die Räume des Komforts und der Isolation, an die wir uns in diesem Jahr gewöhnt haben. Die Aussagen, die die Künstlerin durch ihre Installationen eloquent kommuniziert, unterminieren die gegenwärtige gesellschaftliche Benommenheit gegenüber drängenden und oft schockierenden, globalen Ereignissen.
Bis 17.1.21, Kunsthalle Bielefeld